Nach Amerika! Bd. 1. Gerstäcker Friedrich
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So ringt und drängt und wühlt das um uns her, keiner ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den salto mortale getan und alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und teuer war – aus dem, aus jenem Grund – und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, von denen w i r im Leben nie geglaubt, daß s i e je an Amerika gedacht, wie sie mit Weib und Kind und Hab und Gut hinüberziehen. Und d o r t ? – Noch liegt ein dichter Schleier über ihrem Schicksal dort, doch Gottes Sonne scheint ja überall. – Dir aber, lieber Leser, greif’ ich aus dem Leben noch hier und da ein paar Freunde heraus, die wir auf dem weiten Weg begleiten wollen.
* * *
Oben in der Brandstraße – nicht weit vom Brandtor entfernt und dem Gasthaus zum Löwen schräg gegenüber – wohnte Professor Lohenstein mit seiner Familie in der ersten Etage eines zwar sehr alten, aber auch sehr wohnlich eingerichteten Hauses, das ihm eigen gehörte.
Der Professor war ein Mann, gerade an der anderen Seite der ,besseren Jahre’, etwa einundfünfzig Jahre alt, aber rüstig und gesund, nur erst mit einzelnen grauen Haaren zwischen den rabenschwarzen Locken, die ihm über die bleiche, aber hohe und geistvolle Stirn fielen, wie mit fast jugendlichem, elastischem Gang und Wesen. Ein tüchtiger Kopf dabei, hatte er Jura und Cameralia28 studiert und einen großen Schatz von Kenntnissen angehäuft, auch in manchem, mit schweren mühsamen Nachtwachen erkauften Werk der Welt, der undankbaren Welt das Resultat seiner Studien und Forschungen gebracht und dargelegt. Unzufrieden aber mit dem Erfolg und der kalten Aufnahme, die es gefunden, wandte er sich später wieder von den bis dahin bevorzugten juristischen Wissenschaften ganz ab und allein seinem Lieblingsstudium, den Cameralien zu, in denen er besonders der Gewerbskunde seine Tätigkeit widmete, auch mit einem Buchhändler in Heilingen eine Gewerbezeitung gründete und herausgab.
Hierin hatte er Unglück, der Buchhändler machte bankrott und er übernahm die Zeitung, mit ziemlich großen Verlusten schon, allein.
So vortrefflich aber Professor Lohenstein in der Theorie seiner Wissenschaft bewandert sein mochte, so wenig sattelfest war er es in der Praxis, und seine Zeitung wollte und wollte keinen Boden gewinnen. Mit fabelhaftem Fleiß suchte er dem zu begegnen, umsonst – umsonst auch, daß er Kapital nach Kapital in das zuletzt nur noch zur Ehrensache gewordene Unternehmen steckte. Sein Haus bekam Hypothek auf Hypothek, und mit einer höchst ungünstigen politischen Periode, in der ihm eine große Anzahl Abonnenten absprang, trafen ihn auch so bedeutende pekuniäre Verluste, daß er sich endlich genötigt sah, sein Blatt vollständig aufzugeben. Es war das schwerste Opfer, das er bis dahin gebracht.
Professor Lohenstein hatte eine ziemlich starke Familie; eine Frau, zwei erwachsene Töchter von siebzehn und zwanzig Jahren, einen Sohn von achtzehn und zwei kleinere Kinder, einen Knaben von acht und ein Mädchen von sieben Jahren. Wenn auch nicht in Reichtum, doch in einem gewissen Wohlstand erzogen, war aber der Familie bis jetzt das schwere Wort N a h r u n g s- s o r g e n fremd geblieben; der Professor hatte immer, was man so nennt, ein Haus gemacht und sich in einem Umgangskreis bewegt, der ihnen schon an und für sich eine gewisse Verpflichtung auferlegte, manches mitzumachen, was seinen sonst mehr einfachen Neigungen eben nicht Bedürfnis schien. Das alles sollte, ja m u ß t e sich jetzt ändern, denn wenn er auch aus den Trümmern seines Vermögens nach allen erlittenen Verlusten einen kleinen Teil zu retten vermochte, genügte der nicht, das bisherige Leben fortzuführen. Die Wahl blieb ihm jetzt allein, von Neuem eine Laufbahn mit geringeren Mitteln anzufangen und sich und den Seinen schwere und ungewohnte Entbehrungen an einem Orte aufzuerlegen, wo ihn alles und jedes an frühere und bessere Zeiten erinnerte, oder – es war eine schwere Stunde, in der ihm d a s Bild zum erstenmal vor die Seele stieg – in einem anderen Erdteil, ungekannt, aber auch nicht bemitleidet oder verspottet, ein vollkommen neues L e b e n zu beginnen.
Aber die Frauen? Würden sie den Mühseligkeiten einer so langen Reise, einer Ansiedelung drüben in einem noch wilden Lande gewachsen sein? – Daß er selber die Beschwerden eines solchen Lebens leicht ertragen würde, daran zweifelte er keinen Augenblick; er hatte so viel über Amerika gelesen, sich mit den dortigen Verhältnissen aus allen erschienenen Schriften so vertraut gemacht, daß er alles kannte, was ihn dort erwartete, und einem derartigen Wirken eher mit Freude und Lust, als Bangen entgegenging. Aber durfte er seine Frau all’ den sie erwartenden Unbequemlichkeiten und Strapazen aussetzen? Durfte er seine Töchter aus ihrem geselligen, glücklichen Leben reißen und ihnen mit einem Schlage alle jene Vergnügungen entziehen, die ihnen hier schon mehr als Erholung, die ihnen fast Bedürfnis geworden?
Einen langen und schweren Kampf kämpfte er mit sich selber monatelang, und er wurde alt in der Zeit, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, und seine Züge bekamen etwas Mattes und Abgespanntes, das sie sonst, in seiner schwersten Arbeitszeit noch nie gehabt. Wenn auch die Kinder sich leicht mit einem vorgeschützten Unwohlsein beruhigen ließen, dem scharfen Blick der Gattin entging die Sorge nicht, die an seinem Herzen heimlich, aber desto gewaltiger nagte, und ihren dringenden, ängstlichen Bitten konnte er zuletzt nicht länger widerstehen. Was sie doch zuletzt hätte erfahren m ü s s e n, vertraute er ihr an, und wenn es die arme Frau auch wie ein Schlag aus heiterem Himmel traf, nahm sie das Ganze doch viel ruhiger auf, als er erwartet, gefürchtet, und damit eine schwere Last von s e i n e m Herzen – auf das ihre.
Aber leichter trägt sich die geteilte, und bereden konnten sie jetzt zusammen, was zu tun, welchen Weg zu gehen, die Möglichkeit zu besprechen, die sich hier ihrem Leben bot, die Möglichkeit erwägen, die ihnen dort eine andere, freiere Zukunft öffnete. Und die Kinder? Wohin Mutter und Vater gingen, folgte die ja gern; nur die Szene wechselte für sie, anderen, vielleicht selbst bunteren Bildern Raum zu geben, und Kummer und Sorge kannten die ja nicht.
An demselben Abend waren die beiden ältesten Töchter zu einem kleinen Fest, dem Geburtstag einer Freundin, eingeladen, und hatten schon den ganzen Tag mit rastlosen Fingern an dem bunten, blitzenden Ballstaat genäht. Der Vater begleitete sie dorthin, nur die Mutter blieb daheim, Kopfschmerz und die Sorge um das jüngste Kind vorschützend, das mit einem leichten Unwohlsein in seinem Bettchen lag. Aber gegen zehn Uhr schlummerte es sanft und ruhig auf dem weichen Lager ein, und daneben, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, saß die Mutter und weinte – weinte, als ob sie mit dieser Tränenflut all’ den Gram und Kummer fortwaschen wollte, der jetzt, ein dunkler Wolkensaum, am Horizont ihres Glücks erschien, und wild und drohend höher und höher stieg.