Die Kinder vom Hühnerberg. Eberhard Schiel

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Die Kinder vom Hühnerberg - Eberhard Schiel

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Am Bäckerladen steht eine riesige Schlange. Sie warten auf Brot. Wann es welches gibt, weiß keiner. Inge soll Mutti irgendwann ablösen und mich mitnehmen. Es dauert eine Ewigkeit. Endlich sind wir an der Reihe. Inzwischen hat mich der Hunger gepackt. Ich bohre mit dem Finger ein Loch in das frische, dampfende Brot. Inge zeigt dafür Verständnis. Wir bringen die Verpflegung in unterhöhltem Zustand nach Hause. Mutti schweigt. Ich verdrücke mich in den zweiten Raum. Von den ersten zwei Jahren ist mir ansonsten kaum etwas in Erinnerung geblieben. Ich war ja noch zu klein. Als ich etwa fünf Jahre alt bin, betrete ich dann bewusst den Boden, auf dem die Geschichte der Nachkriegszeit sich abspielt. Ich lege allmählich die Krücken beiseite, auf die ich mich zuvor stützen musste.

      In dem furchtbaren zweiten Raum unserer Wohnung ist es mir zu ekelhaft wegen der Ratten. Sie dürfen nicht die einzigen Untermieter bleiben. Um ihnen Angst einzujagen, schaffe ich mir eine Katze an; gleich darauf, zur Zierde, ein Aquarium. Auf Empfehlung eines Freundes. Ja, inzwischen habe ich mich irgendwie nach Freunden umgesehen, und dafür gibt es auf dem Hühnerberg eine wahre Fundgrube. Wir Kinder vom Hühnerberg sind alle - der eine mehr, der andere weniger - arm dran. Der Sturm des Krieges hat sie hierher geweht und an Land gespült. Ihre Eltern haben das nackte Leben retten können, sonst nichts. Aber gerade diese soziale Stellung macht uns untereinander solidarisch. Wir halten zusammen. Andere Kinder aus den benachbarten Straßen und Gassen fühlen sich zu uns hingezogen. Da entstehen Freundschaften, feste Bindungen für eine Ewigkeit. Egal, ob Junge oder Mädchen, wir sind einander zugetan. Ein Mädel hütet bei uns das Tor, ein Junge spielt mit Puppen, na und? Wir toben gemeinsam, denken uns jeden Tag neue Streiche aus und besuchen uns gegenseitig. Bei Heike findet ein Basar für Lackbilder statt. Man kann auch die schönen bunten Stillleben mit ein wenig Geschicklichkeit gewinnen. Dazu lege ich einen Bogen auf die flache Hand, stoße an die Tischkante und falls dann dieses Lackbild genau auf ein bereits auf dem Tisch liegendes fällt, darf ich beide einstecken.

      Bei Herbert ist keine Poesie zu finden. Bei ihm ist der Teufel los. Er besitzt ein kleines, drolliges Teufelchen, den er in der Flasche gefangen hält. Dort bewegt sich das aus geblasenem Glas hergestellte Männchen recht munter, trabt im Wasser auf und ab, dreht sich um die eigene Achse, ja tanzt sogar eine Polka. Wie das funktioniert? Fragt mich lieber nicht. Der Apfel fällt nicht immer dicht am Stamm. Mein Vater, der Techniker, würde sich im Grab umdrehen, wenn er erführe, wie hilflos sein jüngster Sohn den einfachsten technischen Dingen gegenüber ist. Mir doch egal! Hauptsache, wir spielen. Ich könnte die Frage ja auch mal so stellen. Weiß denn Helga eigentlich, wie ihr Kaleidoskop arbeitet? Sie reicht es mir zur Begutachtung. Ich werfe einen Blick in das Rohr, bestaune farbige Muster, die sich beim Drehen des Zauberstabes verändern. Schon beeindruckend.

      Und bei uns ist die Laterna Magica zu Hause. Wölfi macht den Filmvorführer. In der heutigen Vorstellung bietet er uns das Märchen “Hänsel und Gretel” an. Mein Bruder wickelt die in Pergament-Papier eingepackten Glasplatten aus, schiebt sie in den alten Holzkasten, und schon erscheint Hänsel auf dem Bettlaken, das speziell für diesen Zweck über der Tür hängt. Meine Freunde wundern sich, und das sollen sie, bitte schön, auch. Schließlich ist die Laterna Magica noch etwas, was vom Vater übrig blieb. Ich sage das echt stolz: “ Das Heimkino ist noch von Papa! Er hat es selbst gebaut, damals, als er noch lebte.!” Wölfi meint: “Ja, das stimmt. Das war ein Geschenk zu meinem zehnten Geburtstag.”

      Wir wollen aber nicht nur totes Spielzeug, sondern auch lebendiges, wir wollen Haustiere, und überlegen, welche für uns in Frage kommen. Einer sagt: “Ich würde gerne Zierfische nehmen.” Guter Gedanke. Ich nehme ihn auf. Und siehe da, eines Tages schwabbeln im Aquarium Guppys, grüne und rote Schwertträger, Black Moli`s und Prachtbarben. Katze Morchen hat ihre helle Freude an dem unerwarteten Angebot. Während Dieter mit mir zum Löschteich bei der Mahnke`schen Wiese geht, um dort Wasserflöhe zu holen, plant Morchen, schön unbeobachtet, zu Hause ein Attentat. Sie vergreift sich an Zierfischen. Als ich die Wohnung betrete, sehe ich das Unheil, das die Katze angerichtet hat. Da sitzt sie doch schmatzend auf dem alten, muffigen Kanapee, das Becken liegt zerschlagen am Boden, überall rinnt das Wasser durch den Fußboden, ein Fisch zappelt gerade sein Leben aus. Morchen wird auf dem Friedhof ausgesetzt. Die Ratten bleiben.

      Die nächste Kleinvieh-Haltung findet draußen statt. Wir bauen auf dem Hof des hohen Giebelhauses Sastrowstraße 1 einen Taubenschlag. Woher aber die Strasser und Hannoveraner nehmen? Horst ist der Ansicht, es gäbe in Langendorf einen Züchter, der Tauben abzugeben habe. Wir krempeln die Taschen um, schlachten unsere Sparschweine und laufen los. Langendorf liegt nicht gleich um die Ecke. Das macht uns nichts aus. Wir sind flink, ausdauernd und zäh. Die Täubchen bringen wir unversehrt zum Hühnerberg. Und nun, wo es spannend wird, versagt natürlich das Gedächtnis. Wie lange war ich stolzer Mitbesitzer der Tauben? Welche Dienste haben sie uns geleistet? Warum sind sie abgeschafft worden? Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich ist das ewige Gegurre der Strasser einem sensiblen Hausbewohner auf die Nerven gegangen. Beschwerde bei den Eltern, meiner Mutter oder dem Hauswirt. Vorbei die Illusion vom fliegenden Boten, den man mit diskreten Aufträgen betrauen könnte.

      Nun, beim übernächsten Versuch, sollte es unbedingt eine Ziege sein, die beim Hühnerberg 3 ihr Quartier bezieht. Ich kannte sie schon eine Weile, hatte sie oft beobachtet, ein Auge auf sie geworfen. Ich sehe mich noch, wie ich sie eines Tages kurz entschlossen am Strick in die Wohnung ziehe. Eigentlich zählte sie zum lebenden Inventar des Ackerbürgers Meier. Sein Sohn sollte auf sie aufpassen. Aber Meier jun. war zu nichts zu gebrauchen. Er saß in der ersten Klasse hinter mir auf der Schulbank. Dort blieb er kleben. Im Jahr zuvor hatten sie ihn nicht versetzt. Das bevorteilte Hans Meier in körperlichen Belangen, aber im Denken hakte es immer noch bei ihm aus. Hans vernachlässigte neben seinen Schularbeiten auch die Ziege. Sie schaute stets recht traurig drein, wie sie so da stand am Strick neben dem Pflock, auf der kleinen Wiese am Haus. Ich nahm mich ihrer an. Ein Akt der Barmherzigkeit. Jawohl!! Bei uns würde sie es besser haben, sofern sie pünktlich das Plansoll an Milchleistung erfülle, versprach ich ihr. Mutter empfing meinen neuen Kameraden mit gemischten Gefühlen. Sie lachte und schimpfte zugleich. Sie nannte letztlich die Dinge beim Namen, redete von Diebstahl. Meier könnte mit einer Anzeige drohen, wenn er erführe, wo die Ziege abgeblieben ist. Das Argument zog bei mir nicht. Ich wurde ungezogen. Mutter verlegte sich aufs Bitten. Sie sagte: Bring` sie wieder zurück. Es ist besser so, Bübi. Wir werden sonst nicht froh mit der Ziege. Du hast es bestimmt gut gemeint, aber...” Wie ich solche Sätze hasse. Immer meine ich es gut, und immer ist es falsch, was man auch macht. Davon kann ich nun wirklich ein Liedchen singen. Knirschend nahm ich die “Susi”, wie sie von mir gerufen wurde, am Strick. Sie wollte gar nicht mit. Wir waren beide bockig. Was soll`s. Gegen den Willen der Erwachsenen kommt man doch nicht an. Hinter einer Hecke am Eingang des Friedhofs stehend, lauerte ich mit der “Susi”, ob die Luft rein ist. Heimlich band ich sie wieder am Pflock fest. So als wäre nichts gewesen. Mein Weg führte noch oft an ihr vorbei. Mutter, die ich ansonsten verehrte, dachte sich ausgerechnet am Sonntag nämlich immer eine kleine Bestrafung, die ohnehin fällig war, aus. Ich musste mit ihr vor dem Fußball-Spiel der BSG Motor zum Friedhof. Am Grab meines Vaters stehend, hüpfte ich nervös von einem Bein auf das andere, schaufelte wild das Herbstlaub von der Erb-Begräbnisstätte, und machte die Mutter damit so nervös, dass sie sagte:”Nun hau` schon ab!” Das war das Zeichen. Ich lief so schnell wie unser Mittelfeld-Ass Erwin Hasenjäger den Frankendamm hoch. Nur bei “Susi” hielt ich kurz inne. Sie erkannte mich, wollte näher zu mir ran, aber ich sagte ihr: “Keine Zeit, Susi, das Spiel fängt gleich an.” Die Ziege schaute mich nur traurig an, vielleicht auch vorwurfsvoll. Bei dem alten Meier gefiel es ihr nicht. Das merkte man. Allein, es sollte nicht sein. Ich musste den Traum von einer eigenen Ziege fallen lassen.

      So, von nun an ging`s bergab. Auf dem Hühnerberg kein Problem. Ein paar Schritte nur, und ich stand vor der Krippe von Kohagens Pferd. Einmal hatte man es schon für einige Stunden entführt - Ziege, ich hör` dir trapsen - doch der Milchhändler erwischte den Dieb und stellte sein Zugtier wieder in den Stall. Dort streichelte ich es liebevoll. Der “Adam” war sanftmütig, gehorsam, und trotzdem kräftig. Kohagens ganzer Stolz. Oft saßen wir auf seiner Kutsche, die unter dem Birnbaum des Hofes stand. Wir ritten gedanklich in die große, weite Welt hinaus. Lindi rief:

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