Praxiswissen Meilensteine. Professor Dr. Harry Schröder

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Praxiswissen Meilensteine - Professor Dr. Harry Schröder

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Unser Vater wurde 1907 geboren, blieb Einzelkind, studierte Pädagogik und lernte unsere Mutter kennen. In Mutters Dorf lebten mehrheitlich Katholiken, die bei erschreckenden Geräuschen ausriefen: „Herr was begehrscht“. So auch ein Nachbar, jedoch anstatt dass ihm der Herr ein Zeichen gab, sagte der Sohn: „Vadder des sin mei Spatze in de Kischt.“ Unser Großvater mütterlicherseits bewirtschaftete zusammen mit unserer Großmutter einen landwirtschaftlichen Betrieb. Sie hatten zwei Kinder. Unsere leibliche Großmutter ist leider sehr früh gestorben. Der Großvater ging eine zweite Ehe ein und unsere neue Großmutter brachte ebenfalls zwei Kinder mit in die Ehe. Die neue Großmutter, die wir mit „Ihr“ ansprachen, stammte von einem großen begüterten Bauernhof ab, von dem später mein Cousin und ich unseren Frauen scherzhaft erzählten, er sei so groß gewesen, dass die gesamte 6. Armee bei ihrem Durchmarsch nach Stalingrad auf dem Hof Rast gemacht hätte und jeder Soldat von unserer Großmutter Essen auf einem Porzellanteller mit einem Silberbesteck serviert bekam.

      Die Vorfahren unserer Mutter kamen aus dem Elsass. Das Elsass war zunächst germanisiert und geriet dann zunehmend unter die politische Kontrolle Frankreichs und die Elsässer wurden von den Franzosen enteignet. Ab 1803 wanderten die enteigneten Elsässer massenhaft nach Südrussland aus.

       Vater und Mutter heirateten und Vater wurde etwas später vom Schulamt als Rektor und Fachlehrer für Geschichte und Erdkunde in einer deutschen Mittelschule im Gebiet Odessa eingesetzt. Mein älterer Bruder wurde 1936 geboren.

       Unsere Familie wohnte im Wohnhaus des Schulrektors. Vater war Hobby-Jäger und Mitglied des Jagdvereins. Ein Onkel, Fachlehrer für Biologie und Naturlehre, war ebenfalls an der Mittelschule tätig. Sein Hobby war die Fotografie und er entwickelte die Fotos selbst. Noch heute existieren einige seiner Schul- und Personenfotos, so auch die allerersten Aufnahmen von mir.

      Kapitel 2

       Kaum geboren, schon auf der Flucht

      Ich wurde 1939 mit Ausbruch des 2. Weltkriegs geboren. Im Juni 1941 begann der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion. Mit dem schnellen Vorstoß der Wehrmacht befanden wir uns plötzlich unter NS-Herrschaft. Als die Rote Armee die besetzten Gebiete zurückerobern konnte, wurden wir in den Warthegau, im besetzten Polen, umgesiedelt und dort unter dem Manifest „Heim ins Reich“ als Deutsche eingebürgert.

       Mit der deutschen Niederlage gerieten wir wieder in den Machtbereich der Sowjetunion und unsere Mutter mit uns zwei Kindern und unsere anderen Verwandten flüchteten vom Warthegau nach Thüringen.

       Der Vater indes war als Dolmetscher in die deutsche Wehrmacht eingezogen worden, er geriet später in Österreich in amerikanische Gefangenschaft und kam in Süddeutschland in ein amerikanisches Internierungslager. Im Internierungslager wurde er von den Amerikanern im Schuhhandwerk angelernt und in der Schuhmacherei eingesetzt. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft war er Jahre später in Nordrhein-Westfalen wieder als Lehrer tätig.

       In Thüringen wurden wir in den geräumten Baracken eines Kindergartens untergebracht. Unser bevorzugtes Spielgerät war ein Drehkreuz am Bahnübergang auf dem Weg in den Ort. Zudem waren wir Kinder damit beschäftigt, eine hölzerne Flussbrücke mit einer provisorischen Gießkanne aus Konservenbüchsen vollständig mit Wasser zu benetzen. Bei diesem Spiel bin ich aus Unachtsamkeit fast in dem Fluss ertrunken und wurde quasi in der letzten Sekunde aus dem Wasser gerettet.

       In bleibender Erinnerung ist mir auch das mit Zucker bestreute Brot, das unsere Mutter meinem Bruder zum Geburtstag zubereitete.

       Im April 1945 erfolgten noch Bombenangriffe der Amerikaner. Die Zivilbevölkerung wurde darüber rechtzeitig vorgewarnt. Unsere Großmutter, an deren Schürze wir stets hingen, flüchtete mit uns fünf Enkelkindern zum Schutz in den nahe liegenden Bergwerkstollen.

       Eine echte Bombardierung ist mir nicht in Erinnerung. Im Mai 1945 fielen anstatt Bomben kleine erleuchtete Weihnachtsbäume an Fallschirmen aus einem Flugzeug als Zeichen des Kriegsendes.

       Als an der Herzgut Molkerei amerikanische Militärfahrzeuge mit Verpflegung für die amerikanischen Soldaten eintrafen, waren ein Cousin und ich als sechsjährige anwesend.

       Ein Karton mit amerikanischer Militärschokolade, der bereits geöffnet war, flog direkt vor unsere kleinen Füße. Wir versuchten heimlich einen Riegel davon zu stibitzen und wurden dabei von einem der amerikanischen Soldaten fotografiert. Wir hatten Angst; erhielten aber von den Soldaten anstatt der befürchteten Rüge, die Arme voller Süßigkeiten und anderer Esswaren.

       Im Juli 1945 rückte die sowjetische Besatzung an. Sie belegten sofort das Pförtnerhaus der Zellwollfabrik. Zur Mittagszeit tummelten wir Kinder uns vor dem Pförtnerhaus. Manchmal wurden wir durch das offen stehende Fenster hinein gehoben, auf jeden Fall erhielten wir immer einen Anteil von ihrer Mittagsration.

       Im August 1945 fand die Demontage einiger Fabriken durch die Sowjets in Thüringen statt und die Verladung der demontierten Maschinen nach Russland wurde im November begonnen. Es ist anzunehmen, dass die Soldaten das Pförtnerhaus besetzten, um sicherzustellen, dass keine Maschinen von den deutschen Besitzern aus der Zellwollfabrik entfernt wurden.

       Unsere Mütter und unsere Großmutter, die alle fließend russisch sprechen und verstehen konnten, das aber vor den Russen verbergen mussten, um nicht wie andere Frauen mit ihren Kindern zurückgeholt und nach Sibirien verbannt zu werden, wurde die Situation zu heikel. Nachdem eine Tante die Möglichkeiten der Umsiedlung von Thüringen nach Norddeutschland geprüft hatte, zogen wir um.

       Ein Dorf am Fluss

      Die Turbulenzen der Umsiedlung in den Westen sind vorbei und Vater ist aus der Internierungshaft zurück.

       Da macht man sich halt schon Gedanken, wie dieser Fleck der Erde, auf dem man jetzt gerade steht, wohl im 9. Jahrhundert ausgesehen hat. Denn vor einigen Jahren feierte das Dorf sein über 1.200-jähriges Bestehen. Da es Menschen von jeher ans Wasser zog, war es gewiss der am Dorfrand sich durch die Wiesen schlängelnde Fluss, der das Dorf entstehen ließ. In der Dorfchronik ist vermerkt, dass der Fluss in ganz alten Zeiten über eine Furt überquert wurde, was auf eine nahe liegende Besiedelung schließen lässt.

       Wir wohnten im Schatten der Dorfkirche. Küche mit Kohleofen, Stube mit Kachelofen, Waschraum mit Pumpe, Plumpsklo und Lagerschuppen im Anbau, großer Garten mit Sauerkirschbaum waren unser neues zu Hause.

       Die Dorfkirche war, wie man sie sich vorstellt. Im 16. Jahrhundert fertig gestellt, im Zentrum des Ortes liegend, mit Holzschindeln gedeckt, Turm und Mauern weiß getüncht und einer uralten ausgehöhlten Linde davor. Der hohle Baumstamm war für uns Kinder ein beliebtes Klettergerüst. Die Uhr am Kirchturm kündigte durch Glockenschlag den Feldarbeitern um das Dorf herum die Zeit an und die Glocke im Turm rief Sonn- und Feiertags zum Kirchgang.

       Doch dem Glockengeläut ging ein halsbrecherischer Aufstieg auf einer schmalen Holzstiege bis ganz nach oben in den Glockenturm voraus. Und dann, die große gusseiserne Glocke, in Schillers Gedicht in ihrer Herstellung sehr ausführlich beschrieben, mittig an einem kräftigen Eichenbalken befestigt. Auf den Enden des Eichenbalkens stehend wurde die Glocke durch Wipp- und Schaukelbewegungen von zwei Erwachsenen in Gang gesetzt. Vom Turmgang zurück verging eine lange Zeit, bis man wieder etwas hören konnte.

       Warum hat es uns gerade in dieses Dorf verschlagen? Ich würde meinen, ein Ort ohne Trümmer, mit Ackerbau und Viehzucht, rund einem Dutzend Bauernhöfen und Landwirtschaftlichen Betrieben, einer Wassermühle, einem Reet gedeckten Heimathaus, einer Blaufärberei, einem Bahnhof, dem Bürgermeisteramt, einer Molkerei, einer Lederfabrik, einer Sparkasse, einer Maschinenfabrik, einer Post, einem Bierverlag, einer Sägerei, einer Lackfarbenfabrik,

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