Mehnerts Fall. Peter Schmidt
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Das alles verriet eher die Handschrift der Russen. Er dachte an Pirogow, den er persönlich gut kannte. Daher schloss er auch nicht aus, dass Karwels Devisenvergehen fingiert war und dass man ihn gezielt für dieses Unternehmen in die Tschechoslowakei gelockt und dann verhaftet hatte. Der Pass war offenbar echt.
Und wenn man für das Visum einen Spezialstempel benutzt hatte, der sich nachher entfernen ließ, musste eine Absicht dahinterstecken.
Möglicherweise arbeitete Karwels Freundin in Prag für die Sache. Dann ergab sich eine neue Perspektive: die Möglichkeit weiterer Rückschlüsse für den Computer des BND. Er rauchte noch eine Zigarette – Karwel war Kettenraucher –‚ ließ die Mappe durch den Papierschnitzler laufen und verbrannte den Rest im Aschenbecher. Danach fuhr er mit dem separaten Aufzug in die Tiefgarage. Das Ministerium besitzt eine Ausfahrt, die unter den Wohnblocks zum Köpenicker Platz führt.
In der Halle wartete ein grauer BMW mit Westberliner Kennzeichen.
Der junge am Steuer trug einen englischen Lumberjack. Es war einer von Störtes neuen Leuten.
„Ihre Reisetasche liegt auf dem Rücksitz“, sagte er und zeigte nach hinten.
„Gut, fahren Sie los.“
Es war dunkel, als sie die Ausfahrt verließen; für Juni zu kühl. Iven kurbelte die Wagenscheibe hoch. Die Straßenlaternen glitten vorüber. Unter den Linden sah man zu dieser späten Stunde kaum noch Passanten. Sein Zug fuhr kurz nach eins. An der Staatsbibliothek bogen sie zur St.-Hedwigs-Kathedrale ab. Ein Blick in den Rückspiegel überzeugte ihn davon, dass ihnen kein Wagen folgte.
Der Fahrer bemerkte seinen prüfenden Blick.
„Wir sind früh genug dran“, sagte er. “Die Übergänge für Westdeutsche schließen erst um 24 Uhr. Zur Not hätte es auch noch für eine kleine Manöverrunde durch die Stadt gereicht.“
Iven nickte.
Sie fuhren durch die Wallstraße zum Übergang Heinrich-Heine-Straße.
Der Himmel über den Baracken und der Mauer war hell vom Licht der Bogenlampen. Einer der Vopos, der breitbeinig vor der Barriere stand, warf einen langen Schatten. Der Fahrer des westdeutschen Wagens vor ihnen musste die Motorhaube öffnen. Kinder liefen zwischen den Fahrzeugen umher. Ein Mann in kariertem Jackett kletterte vom Rücksitz und stellte sich in den Weg.
„Steigen Sie wieder ein“, sagte der Vopo.
Iven sah auf seine Armbanduhr, eine Schweizer Automatik, die in der Manteltasche gesteckt hatte. Es war drei Viertel zwölf. Hinter ihnen trafen noch Nachzügler ein.
Ein weiterer Uniformierter kam aus der Baracke. Offenbar hatte er ihr Nummernschild durch das Fenster erkannt. Er warf einen Blick in den Wagen, nickte und winkte sie durch..
Fehlt nur noch, dass er militärisch grüßt! dachte Iven. Sie überholten das Fahrzeug mit der offenstehenden Motorhaube. Der Mann im karierten Jackett, der wieder eingestiegen war, sah ihnen interessiert nach.
Verdammter Leichtsinn, dachte er. So fielen sie natürlich auf. Er wusste, dass die Gegenseite von ihrem Kontrollpunkt aus jedes ungewöhnliche Vorkommnis registrierte. Sie schienen zu schlafen, aber es war nichts als ein Bluff. Man wusste das aus früheren Fällen.
„Wer hat angeordnet, dass wir bevorzugt abgefertigt werden?“, fragte Iven ärgerlich.
Der junge am Steuer zuckte die Achseln.
Sie passierten die Zollbaracke, dann die gewundene Fahrbahn zwischen den Barrieren.
Auf der Gegenseite brannten die Lampen nur mit halber Kraft.
Es war kein Posten zu sehen. Im halbdunklen Fenster des Kontrollgebäudes glimmte wohl eine Zigarette auf – doch die Gestalt hinter der Scheibe bewegte nicht einmal den Kopf, um ihnen nachzublicken, während ihr BMW in den Westsektor rollte.
2
Als Iven am Bahnhof Zoologischer Garten in den Interzonenzug stieg, ahnte er, dass ihm der Fall noch Schwierigkeiten bereiten würde.
Allerdings war er übermüdet. In den vergangenen drei Tagen hatte er zu wenig Schlaf abbekommen. Und die Umgebung, die Fahrt durch West-Berlin, hatte ihn abgelenkt. Er war unkonzentriert und kaum in der Lage, sich über das brennende Interesse hinwegzutäuschen, das er für die Stadt empfand.
Zum Glück neigte er nicht dazu, sich daraufhin mit allem Möglichen einzudecken. Auch in Ungarn und der Tschechoslowakei, wo er unter General Pirogow am Projekt ZETKIN mitgearbeitet hatte, bekam man Ostblockwaren, die wegen Devisenmangels nicht in die DDR, sondern in den Westen exportiert wurden.
Das Materielle interessierte ihn nicht sonderlich. Er war eher dagegen. Es war wohl bloße Neugier.
Anscheinend durch einen Planungsfehler hatte man kein Schlafwagenabteil reserviert. Selbst die Betten in den Liegewagen waren ausgebucht. Er beschloss, den Gedanken zu verbannen, dass es sich um eine von Störtes kleinen Hinterhältigkeiten handeln könnte.
Dabei unterstand die Bahn auch in West-Berlin der Verwaltung der Deutschen Reichsbahn. Aber die Polster der ersten Klasse waren bequem, und bis zum Kontrollpunkt Marienborn war er allein im Abteil.
Er lehnte sich zurück. Der Zug glitt durch die Nacht.
Ein Tieflader mit leichten Kampfwagen, die mit Planen überdeckt waren, wartete vor dem ersten Bahnübergang auf ostdeutschem Gebiet. Der Zug stieß einen schrillen Pfiff aus, als er an ihm vorüberdonnerte.
Für Iven war es ein eigentümliches Gefühl, die Strecke, die er schon bei einem guten Dutzend ihrer Leute – beim Planungsstab und auch auf seinem Schreibtisch – verfolgt hatte, nun selbst zu fahren.
Auch in Gedanken war es immer das Abgleiten in etwas Ungewisses gewesen, das man, bei aller Genauigkeit der Planung, nie restlos im Griff haben würde. Es war dieser Effekt, der ihn bei der Stange hielt – am Ende klappte es doch, man kalkulierte und gewann. Trotz aller Unwägbarkeiten.
Zu Anfang seiner Karriere war er ein wenig übereifrig gewesen –was sich mit den Jahren gelegt hatte. Nie das, was man als ideologiegeschädigt bezeichnet. Er sah die Angelegenheit realistisch und setzte auf kleine Schritte. Der Sozialismus würde siegen.
Vielleicht endete er wie Störte, der alles als ein funkelndes Schach- und Schiebespiel ansah, an dem ihn nur faszinierte, dass er selbst die Regeln und den Lauf der Figuren bestimmte.
In Störtes Vergangenheit gab es ein paar dunkle Punkte. Seine Verwundung stammte nicht von der russischen Front, sondern aus dem Warschauer Getto, wo er Besatzer gewesen war. Ein Jude hatte aus Rache eine Granate explodieren lassen. Das alles hatte eine Vorgeschichte.
Er wusste, dass Iven sie kannte, und Iven wusste, dass er wusste, dass er sie kannte.
Man würde keinen Prozess daraus machen. Die Angelegenheit hatte sich in Störtes Papierschnitzler aufgelöst. Es gab keine Unterlagen, er konnte sich sicher fühlen.
Also ärgerte ihn höchstens, dass die gelbe Aktenmappe auf seinem Tisch genau der zum Verwechseln ähnlich gesehen hatte, die Iven eigentlich studieren sollte.
Damals