Der geheimnisvolle Fremde. Mark Twain

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Der geheimnisvolle Fremde - Mark Twain

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Für mich gibt es keine Grenzen wie für euch. Die Gesetze der Menschen gelten für mich nicht. Ich kann eure menschlichen Schwächen ermessen und verstehen, da ich sie studiert habe; ich selbst jedoch habe keine davon. Mein Fleisch ist nicht wirklich, auch wenn es sich für euch ganz fest und real anfühlen würde; meine Kleider sind nicht wirklich; ich bin ein Geist. Oh, Pater Petrus kommt.“ Wir blickten um uns, konnten aber niemanden sehen. „Man kann ihn noch nicht sehen, aber gleich wird er auftauchen.“

      „Kennst du ihn, Satan?“

      „Nein.“

      „Vielleicht hast du ja Lust, mit ihm zu sprechen, wenn er kommt? Er ist nicht so ahnungslos und dumm wie wir, und er würde sich bestimmt gern mit dir unterhalten. Hast du Lust?“

      „Ein andermal, ja, aber nicht jetzt. Ich muss wirklich gleich los, um meinen Auftrag zu erfüllen. Da ist er ja schon. Seht ihr ihn? Am besten, ihr bleibt sitzen und sagt gar nichts.“

      Wir blickten hoch und sahen Pater Petrus, wie er zwischen den Kastanienbäumen auf uns zukam. Wir hockten alle drei zusammen im Gras, und Satan saß vor uns auf dem Feldweg. Pater Petrus kam nur langsam näher, mit gesenktem Kopf und in Gedanken versunken, blieb ein paar Meter weit vor uns stehen, nahm den Hut ab und zog sein seidenes Taschentuch hervor, stand da, wischte sich übers Gesicht und sah aus, als wolle er uns ansprechen, tat es aber nicht. Dann murmelte er: „Ich weiß gar nicht, wie ich hierhergekommen bin; mir ist, als wäre ich vor ein paar Minuten noch in meine Studien vertieft gewesen – aber anscheinend habe ich nur eine Stunde lang vor mich hingeträumt und bin den ganzen Weg hierher gelaufen, ohne es zu merken. Ich bin völlig neben mir in diesen Kummertagen.“

      Dann lief er weiter, nuschelte immer noch vor sich hin und lief direkt durch Satan hindurch, als wäre da niemand gewesen. Uns stockte der Atem, als wir das sahen. Wir verspürten den Drang, laut aufzuschreien, wie immer, wenn einem etwas Erschreckendes widerfährt, doch eine geheimnisvolle Kraft hinderte uns daran, und wir blieben ganz still, nur unser Atem ging schneller. Nach einer Weile verschwand Pater Petrus hinter den Bäumen, und Satan meinte:

      „Wie ich euch schon gesagt habe – ich bin nur ein Geist.“

      „Das leuchtet uns ja ein“, sagte Nikolaus. „Aber wir sind doch keine Geister. Dass er dich nicht sehen konnte, ist klar, aber wir waren für ihn ja auch unsichtbar, oder? Er hat zu uns hergesehen, aber er schien uns nicht zu bemerken.“

      „Nein, keiner von uns war für ihn sichtbar. Weil ich es so wollte.“

      Eigentlich zu schön, um wahr zu sein, dass wir all diese romanhaften und wundervollen Dinge zu sehen bekamen, und dass sie nicht nur ein Traum waren. Und da saß er vor uns, sah aus wie jeder andere auch – ganz natürlich, schlicht und bezaubernd – und plauderte mit uns wie gewohnt, und – nein, es lässt sich nicht in Worten ausdrücken, was wir empfanden. Es war eine Art von Ekstase – und Ekstase ist etwas, das sich nicht in Sprache fassen lässt; es ist wie Musik. Keiner kann jemandem erklären, was Musik ist, so dass der andere es auch wirklich empfindet. Er war zurückgekehrt in die alten Zeiten, und erweckte sie vor uns zu neuem Leben. Er hatte so viel gesehen, so viel! Es war einfach ein Wunder, ihn anzusehen und darüber nachzudenken, wie es war, wenn man so viele Erfahrungen gemacht hatte.

      Aber wenn man ihm lauschte, fühlte man sich auf traurige Weise belanglos, wie eine Eintagsfliege, deren Tag auch nur kurz und armselig war. Und keines seiner Worte eignete sich dazu, dir deinen schwindenden Stolz zurück zu verleihen. Wenn er von Menschen sprach, dann in seiner gewohnt gleichgültigen Weise – so wie man von einem Ziegelstein spricht oder einem Misthaufen. Man spürte, dass sie für ihn völlig bedeutungslos waren, egal in welcher Hinsicht. Er wollte uns nicht verletzen, das spürten wir; schließlich wollen wir ja auch einen Ziegelstein nicht verletzen, wenn wir über ihn herziehen; für uns hat der Ziegelstein einfach keine Gefühle.

      Dann, als er wieder einmal die glanzvollsten Könige und Eroberer und Dichter und Propheten mit Piraten und Bettlern über einen Kamm scherte – alles nur ein Haufen Ziegelsteine – wagte ich es, eine Lanze für die Menschheit zu brechen. Ich fragte ihn, weshalb er zwischen ihr und sich einen so großen Unterschied mache. Einen Moment lang fiel es ihm schwer, zu antworten; so als gehe es ihm nicht in den Kopf, wie ich eine so merkwürdige Frage stellen konnte. Dann sagte er:

      „Der Unterschied zwischen den Menschen und mir? Der Unterschied zwischen einem Sterblichen und einem Unsterblichen? Zwischen einer Wolke und einem Geist?“ Er nahm eine Blattlaus auf, die an einem Stück Baumrinde entlang krabbelte. „Was ist der Unterschied zwischen der hier und Caesar?“

      Ich sagte: „Man kann Dinge nicht vergleichen, die auf Grund ihrer Natur und der Kluft, die zwischen ihnen herrscht, nicht vergleichbar sind.“

      „Damit hast du deine Frage selbst beantwortet“, sagte er. „Ich will es etwas näher ausführen. Der Mensch ist aus Dreck gemacht – ich war dabei, als er erschaffen wurde. Ich bin nicht aus Dreck gemacht. Der Mensch ist ein Museum aus Krankheiten, die Wohnstätte aller Verunreinigungen. Heute erscheint er, und morgen ist er schon wieder verschwunden. Als Dreck kommt er, als Gestank geht er. Ich entstamme der Aristokratie der Unvergänglichen. Und der Mensch hat ein moralisches Bewusstsein. Versteht ihr das? Er hat ein moralisches Bewusstsein. Das allein reicht schon aus, um ihn von mir zu unterscheiden.“

      Er schwieg, als hätte sich das Thema damit erledigt. Es tat mir leid, denn damals hatte ich nur eine vage Vorstellung von dem, was moralisches Bewusstsein bedeutet. Ich wusste nur, dass wir stolz darauf waren, über ein solches Bewusstsein zu verfügen, und wenn er so darüber sprach, verletzte mich das, und ich fühlte mich wie ein Mädchen, das glaubte, sein teuerster Schmuck werde von jedermann bewundert, dann aber hören musste, wie Fremde sich darüber lustig machten. Eine Zeit lang schwiegen wir alle, und zumindest ich war bedrückt. Dann begann Satan erneut zu plaudern, und schon bald hatte er sich in eine so fröhliche und lebhafte Stimmung hineingesteigert, dass meine Laune wieder stieg. Er berichtete von lustigen Streichen, so dass wir aus dem Lachen nicht mehr herauskamen; und wenn er von den Tagen erzählte, als Samson den Füchsen brennende Fackeln an die Schwänze band und sie auf die Getreidefelder der Philister trieb, oder wie Samson auf dem Zaun saß, sich auf die Schenkel schlug und Tränen lachte, bis er das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel, musste er bei der Erinnerung an diesen Anblick ebenfalls lachen, und wir verbrachten eine herrliche und sorglose Zeit miteinander. Irgendwann aber sagte er:

      „Ich muss jetzt meinem Auftrag nachkommen.“

      „Ach, bitte nicht!“ riefen wir alle. „Geh nicht weg; bleib bei uns. Du kommst sonst nicht wieder.“

      „Natürlich komme ich wieder. Ihr habt mein Wort.“

      „Und wann? Heute Nacht noch? Sag schon.“

      „Ich bleibe nicht lange weg. Ihr werdet es ja sehen.“

      „Wir haben dich gern.“

      „Ich euch auch. Und als Beweis dafür will ich euch etwas ganz Tolles zeigen. Normalerweise verschwinde ich einfach, wenn ich gehe; aber diesmal werde ich mich auflösen – und zwar vor euren Augen.“

      Er stand auf, und dann ging alles sehr schnell. Er wurde immer kleiner und kleiner, bis er nur noch eine Seifenblase war, die aber noch immer seine Gestalt hatte. Man konnte die Sträucher durch ihn hindurch sehen wie durch eine richtige Seifenblase, und alles an ihm war ein Spiel und Funkeln mit den schillernden Farben der Blase, und da war auch das kleine Fensterchen, das auf der Oberfläche einer jeden Seifenblase zu sehen ist. Kennt ihr das, dass eine Seifenblase auf dem Teppich landet und noch zwei- oder dreimal hochhüpft, bevor sie platzt? Genau das geschah mit ihm. Er sprang, kam auf dem Gras auf, hüpfte wieder hoch, schwebte ein Stück weiter, kam wieder auf, und so weiter, bis er schließlich – puff!

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