Oliver Twist. Charles Dickens

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Oliver Twist - Charles Dickens

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Seine Mutter war eine Waschfrau und sein Vater ein pensionierter, täglich betrunkener Soldat. Die Ladenburschen nannten ihn verächtlich »Lederhose« und so fort, was er schweigend duldete, dagegen aber nunmehr mit desto größerem Übermut einen Schwächeren und Elternlosen behandelte, den er als solchen tief unter sich sah. – Welch' ein köstlicher Stoff zu Betrachtungen über die liebenswürdige menschliche Natur, deren vortreffliche Eigenschaften sich beim hochstehenden Lord wie beim Armenknaben offenbaren!

      Oliver hatte sich drei bis vier Wochen bei Mr. Sowerberry befunden, als derselbe einst gegen seine Hausehre die Rede auf ihn brachte. »Der Knabe sieht wirklich gut aus,« bemerkte er.

      »Kein Wunder,« entgegnete sie, »denn er ißt genug.«

      »Er hat ein äußerst melancholisches Gesicht und sieht immer so trübselig aus, daß er wirklich einen vortrefflichen Stummen1 abgeben würde.«

      Seine Gattin sah ihn verwundert an, und er fuhr fort: »Ich meine nicht bei Erwachsenen, sondern bei Kinderbegräbnissen. 's ist etwas Neues, auch zu dergleichen kleine Stumme zu stellen, und man kann sich etwas davon versprechen.«

      Mrs. Sowerberry, die für Geschäftssachen ein gutes Verständnis besaß, war von der Neuheit des Gedankens überrascht; da es aber gegen ihre Würde verstoßen haben würde, wenn sie dies zugegeben hätte, so fragte sie nur mit großer Schärfe im Ton, warum ihr einfältiger Eheherr denn nicht schon längst daran gedacht habe, und Mr. Sowerberry, der dies richtig als Zustimmung auslegte, beschloß, Oliver in die Mysterien des Leichenbestattergeschäfts einzuweihen und sich daher von ihm zum ersten besten vorkommenden Begräbnisse begleiten zu lassen. Die Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten, denn eine halbe Stunde darauf erschien Bumble mit dem Aufträge zu einem Kirchspielbegräbnisse.

      Mr. Sowerberry ordnete die erforderlichen Vorbereitungen an und befahl Oliver, mit ihm zu gehen. Sie begaben sich nach dem bezeichneten Hause, um das Maß zum Sarge zu nehmen, wo sich ihren Blicken eine Szene des grauenvollsten Elends darbot, die auf Oliver, obgleich er an Elend so wohl gewöhnt war, den peinlichsten Eindruck machte.

      Am folgenden Tage, der rauh und regnerisch war, wiederholten sie ihren Besuch, die Leiche wurde in den Sarg gelegt, jede Anordnung war getroffen. Mr. Sowerberry sagte den Trägern, sie möchten sich sputen und den Geistlichen nicht warten lassen; es wäre schon spät. Die Träger setzten sich in eine Art von Trab, und Oliver mußte fast laufen, um mitkommen zu können. Der Geistliche war noch nicht angelangt, der Sarg wurde in einem entfernten Winkel des Kirchhofs neben der Gruft einstweilen niedergesetzt, und Mr. Sowerberry und Bumble setzten sich zum Küster in die Sakristei an das Feuer und nahmen die Zeitungen zur Hand.

      Nach einer halben Stunde erschien der Geistliche, Bumble verjagte die Gassenbuben, die sich damit unterhielten, her- und hinüber über den Sarg zu springen, der Geistliche las eilend die Gebete, entfernte sich wieder, der Sarg wurde eingesenkt, die Grube zugeworfen, und alle begaben sich auf den Heimweg.

      »Nun, Oliver, wie hat dir's gefallen?« fragte Mr. Sowerberry.

      »Recht gut, bedanke mich, Sir,« antwortete Oliver zögernd: »aber doch eigentlich nicht sehr gut.«

      »Wirst dich schon daran gewöhnen,« sagte der Leichenbesorger; »und 's ist gar nichts, wenn du's erst gewohnt bist.«

      Oliver hätte gern gewußt, wie lange es gedauert, ehe Mr. Sowerberry sich daran gewöhnt, wagte jedoch nicht zu fragen und kehrte gedankenvoll mit seinem Herrn nach Hause zurück.

      Kapitel 6

      In welchem Oliver kräftig auftritt

      Es trat gerade eine sehr ungesunde Zeit ein, und Oliver sammelte daher in wenigen Wochen viel Erfahrung. Die Erfolge der scharfsinnigen Spekulation Mr. Sowerberrys übertrafen alle seine Erwartungen. Die ältesten Leute wußten sich nicht zu erinnern, daß so viele Kinder an den Masern gestorben waren, und Oliver mit schwarzen, bis an die Knie herunterreichenden Hutbändern führte einen Leichenzug nach dem anderen an. Die Mütter bewunderten ihn über die Maßen und waren unbeschreiblich gerührt. Da er seinen Herrn auch zu den meisten Begräbnissen von Erwachsenen begleiten mußte, um sich die für einen vollkommenen Leichenbestatter so notwendige gemessene Ruhe und Selbstbeherrschung anzueignen, so hatte er häufig Gelegenheit, die schöne Ergebung und Seelenstärke zu bemerken, welche so viele Leute bei ihren schmerzlichen Prüfungen und Verlusten beweisen.

      Hatte Sowerberry zum Beispiel das Begräbnis einer reichen alten Dame oder eines reichen alten Herrn zu besorgen, der von einer großen Anzahl von Neffen und Nichten umgeben war, welche sich während seiner Krankheit vollkommen untröstlich gezeigt und ihren Schmerz nicht einmal vor den Augen des großen und größten Publikums hatten bemeistern können, so blieb es selten aus, daß sie unter sich so heiter waren, als man es nur wünschen konnte, und so froh und zufrieden miteinander redeten oder auch lachten, als wenn sie ganz und gar keine Trübsal erlebt hätten. Ehemänner ertrugen den Verlust ihrer Frauen mit der heldenmütigsten Ruhe, und Ehefrauen legten die Trauerkleider um ihre Männer auf eine Weise an, als wenn sie dadurch nicht etwa Schmerz andeuten, sondern so anziehend als möglich erscheinen wollten. Viele Damen und Herren, welche bei der Beerdigung der Verzweiflung nahe zu sein schienen, beruhigten sich schon auf dem Heimwege und waren vollkommen gefaßt, bevor die Teestunde vorüber war. Dieses alles war sehr angenehm und lehrreich anzuschauen, und Oliver sah es mit großer Bewunderung.

      Daß das Beispiel so vieler Leidtragenden ihn zur Ergebung und Geduld gestimmt hätte, kann ich mit Bestimmtheit nicht behaupten, sondern vermag nur so viel zu sagen, daß er wochenlang mit Sanftmut die Tyrannei und üble Behandlung ertrug, die er von Seiten Noahs erfuhr, der um so erbitterter gegen ihn wurde, weil sein Neid gegen ihn erregt worden war. Charlotte mißhandelte ihn, weil es Noah tat, und Mrs. Sowerberry war seine erklärte Feindin, weil ihr Gatte sich ihm ziemlich freundlich erwies. Und so befand sich denn Oliver bei diesen Feindschaften und fortwährender Leichenbegleitungslast nicht ganz so behaglich wie das hungrige Ferklein, das aus Versehen in die Kornkammer einer Brauerei eingeschlossen war.

      Es muß aber jetzt ein an sich unbedeutender Vorfall erzählt werden, der jedoch eine bedeutende Veränderung mit Oliver selbst wie mit seinen Lebensschicksalen zur Folge hatte.

      Sein Peiniger trieb seine gewöhnlichen Neckereien weiter als gewöhnlich und hatte es offenbar darauf angelegt, ihn außer Fassung und zum Weinen zu bringen, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. Endlich sagte Noah scherzend, er werde nicht verfehlen zuzuschauen, wenn Oliver gehängt würde, und fügte hinzu: »Was wird aber deine Mutter dazu sagen und wie geht's ihr denn?«

      »Sie ist tot,« entgegnete Oliver; »untersteh' dich aber nicht, mir etwas Schlechtes über sie zu sagen.«

      Oliver wurde feuerrot, als er das sagte; er atmete rasch, um Mund und Nase zuckte es ihm eigentümlich, und Claypole hielt dies für ein untrügliches Anzeichen, daß Oliver bald heftig weinen werde. In dieser Überzeugung ging er in seiner Quälerei weiter.

      »Woran starb sie denn, Armenhäusler?« fragte er.

      »An Kummer und Herzleid, wie mir eine unserer alten Wärterinnen gesagt hat,« erwiderte Oliver, mehr, wie wenn er mit sich selbst redete, als Noahs Frage beantwortend. »Ich glaube, daß ich's weiß, was es heißt, daran zu sterben!«

      Über seine Wange rollte eine Träne hinab, Noah pfiff eine muntere Weise und sagte darauf: »Was hast du denn zu plärren – um deine Mutter?«

      »Daß du mir kein Wort mehr von ihr sagst – sonst nimm dich in acht!« rief Oliver.

      »Ich soll mich in acht nehmen – ich – mich in acht nehmen

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