Der veruntreute Himmel. Franz Werfel
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Franz Werfel
Der veruntreute Himmel
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Inhaltsverzeichnis
Der Pilgerfahrt letzte Station
Motto
»Es ist, als hätten die Menschen gar nicht den Mut,
sich recht lebhaft als unsterblich zu denken«
Jean Paul
Das Heiligenbild
Ich habe Teta gekannt. Sie war eine alte Frau, untersetzt, rundlich, mit breiten Backenknochen und hellen Vergißmeinnichtaugen, die einen aufmerksamen, eigensinnigen und oft argwöhnischen Ausdruck besaßen. Sah man sie dann und wann vorüberhuschen, fiel ihr eilig bemühter Watschelgang auf, der scheue Paß eines nächtlichen Tieres, das aus der menschlichen Gefahrenzone fort und seiner sicheren Höhle zustrebt. Damals hätte ich nicht vermutet, daß ich eines Tages den Versuch machen würde, die Geschichte dieser alten Magd aufzuzeichnen, die gerade noch lesen und schreiben konnte. Nun aber sitze ich da, an einem fremden Tisch in einem fremden Land, und rufe sorgfältig die sehr schmerzliche Erinnerung an eine vergangene Welt empor, in welcher freilich meine Heldin nur eine schattenhafte Dienerrolle spielte. Das Landhaus in Grafenegg steht vor meinen Augen. Und der wunderbare Park. Und der niederzwingende Blick auf die schroffen Einsamkeiten des Toten Gebirges, dieser im Sommer lunaren und im Frühjahr und Herbst neblig-saturnischen Landschaft auf österreichischer Erde.
Der schöne Besitz in Grafenegg gehörte der Familie Argan. Die Argans waren meine liebsten Freunde. Sie hatten von allem Anfang an zu mir gestanden und sich auch in meinen unleidlichsten Zeiten nicht abgewandt von mir. Als ein wenig erfolgreicher, vernachlässigter und ziemlich haltloser Junggeselle fand ich in ihrem Hause eine Heimat, soweit das überhaupt nur möglich ist. Unter den zahlreichen Gästen der Argans habe ich mich niemals als einer unter vielen betrachtet, sondern als ein rechtmäßig Zugehöriger, um nicht zu sagen Angehöriger, hatte ich doch die beiden Kinder, Philipp und Doris, von der Wiege heranwachsen sehen, und sie nannten mich in frühen Jahren »Onkel« und später kameradschaftlich »Theo« wie die Eltern. Es fällt mir schwerer, als ich sagen kann, die Argans, diese vier außerordentlichen Menschen, gleichsam nur im Vorübergehen darzustellen. Mein Herz mahnt mich, ihrem bitteren Schicksal ein Requiem in Gestalt eines eigenen Buches zu singen. Aber dazu fühle ich nicht die Kraft. Auch befindet sich ja alles noch in Schwebe. Ich suche mir ein bescheidenes Geschöpf vom Rande ihres Lebenskreises, um dessen Weg bis zum Ende zu verfolgen. Meine lieben Freunde und ihr Haus bilden somit nur den Ausgangspunkt und werden später aus dieser Geschichte verschwinden wie ich selbst.
Was ich dem Hause Argan verdankte, war mehr als unbeschränkte Freundschaft und Gastfreundschaft. In unserer kargen und barschen Krisenwelt des motorisierten Unbehagens und der rekordschlagenden Verdrießlichkeit stand es da wie eine unzeitgemäße Insel der Freude. Was waren das für schöne, für volltönende Menschen alle vier, Leopold und Livia, Philipp und Doris! Sie bezauberten gleichermaßen alle, die über die Schwelle traten, durch ihr Leuchten, ihr Lächeln, ihre Stimmen, durch ihre herzinnige Wärme und ihr hochkarätiges Temperament. Ob in ihrer Wiener Stadtwohnung, ob draußen in Grafenegg, der Tisch war immer gedeckt, man speiste köstlich, der Wein wurde verschwenderisch geschenkt, und vor allem, die Musik regierte im Hause, denn die vier waren durchwegs Musiker und Musikanten, weit über das Maß des guten Dilettantismus hinaus. Leopold – wir waren gleichaltrig – hatte die Klavierklasse des staatlichen Konservatoriums als preisgekrönter Pianist verlassen, ehe er, dem Willen der Familie sich beugend, in den Dienst des Ministeriums des Äußeren getreten war. An Livias bestrickenden Sopran erinnern sich noch viele Opernbesucher, die sie in den Jahren knapp nach dem Kriege als Agathe, Amelia, Elsa, Leonore gehört hatten. Man konnte es nicht verstehen, daß diese blendende Frau und Sängerin in blühender Jugend ohne Not und ersichtlichen Grund der Bühnenlaufbahn entsagt hatte. Dabei war Livia im Gegensatz zu den oft so unförmigen dramatischen Sopranen eine mädchenhafte Erscheinung, sehr groß, mit dem feinsten Kameenkopf auf dem schlanken Hals. Die achtzehnjährige Doris hatte das dunkle Haar, den blassen Gemmenteint und die Stimme der Mutter geerbt. Philipp aber spielte alle erdenklichen Instrumente mit dem reinen Tonsinn eines musizierenden Engels, mit der gerissenen Kunstfertigkeit eines Jazzmeisters und dem trickreichen Witz eines musikalischen Clowns. Oh, wie viele Nächte wurden bei Argans durchgesungen, -gehämmert, -geklampft, -gefiedelt bis zum raschen und erstaunten Morgen hinan! Und dann ging man, taumelnd vor Entzücken, zu Bette, den bernsteingelben Rausch der Musik in allen Adern, diesen besten der irdischen Räusche, denn die von hundert Melodieteilchen durchmaserte Seele atmet sich mit einem »Seid-umschlungen-Millionen« in den Schlaf. Ich habe niemals Menschen gesehen, die so flügelweit offenstanden den einzig wahren Geschenken des Lebens, der Natur, dem Lied und dem Bild in allen Formen. Ich erinnere mich, daß mir einmal in Grafenegg Adalbert Stifters berühmte Schilderung der Sonnenfinsternis von 1842 in die Hand fiel. Nach Tisch las ich die wenigen Seiten vor. Bei der schönsten Stelle, jener, wo das »bleifarbene Lichtgrauen« überwunden ist, »die Dinge wieder Schatten geben, das Wasser wieder glänzt und die Bäume grün zu werden beginnen«, warf ich einen Blick auf die Runde. Unvergeßlich für immer wird mir der Ausdruck auf dem Gesichtchen der kleinen Doris bleiben, die damals noch keine dreizehn alt war. Dieses Zuhören an sich, die platonische Idee des Zuhörens gleichsam, dieses gespannte Versunken- und Hingegebensein, dieses ruhevolle Eintrinken der geistigen Schönheit, dieses reine Hervortreten und