Der Bruder. Thomas Tippner
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„Wie weit hat man dich über den Ablauf informiert, als du hier hospitiert hast?“, wollte Monika wissen.
„Ganz gut, glaube ich“, antwortete er, der nicht wusste, worauf sie hinaus wollte.
Will sie mich schon alleine losschicken? Das darf sie nicht. Ich meine, hey, ich habe meinen ersten Tag. Das ist ein fremdes Haus. Hier kenne ich mich nicht aus.
„Dann weißt du ja, wie wir vorgehen.“
„Vorgehen?“
Monika lächelte wieder. Das Lächeln, das ihren wahren Charakter ausstrahlte. Nicht ihre hässliche Frisur, die ihr schmales Gesicht noch dürrer erscheinen ließ und ihre für den kleinen Mund zu großen Zähne hervorhob.
Das war die Monika, die er jetzt schon mochte:
Engagiert, fleißig, aber liebenswürdig. Immer darauf bedacht, die Wünsche, für die man gar keine Zeit hatte, doch zu erfüllen.
„Dass wir als erstes die leicht zu mobilisierenden Bewohner aus den Bett holen, sie unterstützen und hinunter zum Essensaal bringen und danach erst die etwas schwereren Fälle waschen und pflegen.“
„Ach so“, nickte Robert. „Klar.“
„Dann los!“
Und wie Monika loslegte.
Vorletzte Woche, als er zwei Tage lang hospitiert hatte, war ihm Claudia schon schnell erschienen. Sie war von Zimmer zu Zimmer gehuscht, hatte ein, zwei freundliche Worte zu den Bewohnern gesagt und dann gewissenhaft ihre Arbeit verrichtet. Was Monika tat, erinnerte jedoch eher an einen Hürdenlauf.
An einen Hürdenlauf, bei dem sie einen neuen Weltrekord aufstellen will, ergänzte er.
Robert kam gar nicht so schnell hinterher, wie Monika in die Zimmer eilte. Er hatte noch keinen Waschlappen aus den Pflegewagen gezogen, da hörte er schon, wie sie einem Bewohner zurief: „Guten Morgen, die Sonne lacht und möchte von Ihnen begrüßt werden!“
Während er noch rasch Handtücher an sich nahm und einen Blick auf den Übergabezettel warf, um zu erfahren, mit wem er es hier überhaupt zu tun hatte, vernahm er, wie Monika die Bettgitter herunterließ und damit begann, den Bewohner an die Bettkante zu setzen.
So ging es den ganzen Morgen.
Robert war froh, und da war er wieder ehrlich, als Monika meinte, er sollte zwei der Bewohner bitte hinunter zum Essenssaal fahren, während sie sich um den ersten richtigen Pflegefall kümmerte.
In dem Moment, wo er die alte Dame mit eiskalten Händen und pergamentener Haut in den Rollstuhl setzte, fiel ihm auf, dass sie ein Zimmer ausgelassen hatten.
Ein Zimmer, wie er mit einem Blick auf seinen Zettel feststellte, das nicht mit einem roten Punkt markiert war. Was bedeutete, dass es hier jemanden gab, der versorgt werden musste.
„Monika“, rief er deswegen. „Was ist mit Herrn Kowalski?“
„Um den kümmere ich mich gleich“, rief ihm seine Kollegin aus dem Zimmer entgegen, in das sie kurz vorher gestürmt war. „Fahr‘ du nur schnell hinter zum Essenssaal.“
„Aha …“
„Nicht gut?“, wollte sie wissen.
„Doch, doch“, meinte Robert und fügte in Gedanken zu: Ich hätte Herrn Kowalski auch gerne kennengelernt.
Als ob die in dem Rollstuhl sitzende Frau mit kalten Händen in seinen Gedanken gelesen hätte, sagte sie nur: „Hermann kümmert sich immer um sich selbst. Er braucht noch keine Pflege.“
„Der Glückliche“, lächelte er.
„Das kannst du laut sagen, Schätzchen“, meinte die Alte, an dessen Namen Robert sich – obwohl er sich alle Mühe gab – einfach nicht erinnerte. „So alt wie ich, aber noch fit wie ein Turnschuh.“
Dabei fiel Robert auf, dass aus dem Mund der liebenswürdigen Dame jedes Wort wie ein Schätzchen klang. Dass man sich gegen ihre Art gar nicht wehren konnte, obwohl er nichts mehr hasste, als mit Verniedlichungen angesprochen zu werden.
Er meinte nur augenzwinkernd „Verstanden, Puppe“, und merkte gleich, dass er zu ihr einen Draht hatte.
Er mochte sie.
Wie sie schon da im Rollstuhl saß, die ausgemergelten Beine angewinkelt, die Füße, die in den hässlichsten, blauen Fellpantoffeln steckten, die er je gesehen hatte, auf die Ablage gestellt. Die grauen Haare, mit einem lila Farbstich, wild und lockig abstehend – ein Leben lang dazu verdammt, niemals von einer Bürste oder einem Kamm gebändigt zu werden.
Dazu lag in ihren grünen, noch immer wachen Augen ein niedlicher, kleiner Schalk, den sich Robert–ebenfalls bewahren wollte, wenn er alt wurde.
Eine Lebenslust, wie er sie niemals verlieren wollte.
Egal, wie hart das Schicksal mit einem umgehen würde.
„Für mich hast du keinen Kosenamen, wie?“, schallte es ihm entgegen, als Herr Trimmer, der noch gut zu Fuß war, zu ihnen kam. Er musste die lose geführte Unterhaltung, die Robert mit der Dame im Rollstuhl geführt hatte, mit angehört haben.
„Knurrkopf ist ja auch nicht nett“, meinte die Alte lachend, und zeigte dann mit ihren dürren, knochigen Finger den Flur herunter. „Da runter. Ich habe Hunger.“
„Du und deine Fresserei.“
„Bumsen will ja keiner mehr mit mir.“
„Du fragst ja nie!“
Solche Leute mochte Robert.
Leicht und locker, das Leben nicht zu ernst nehmend. Und wenn es doch einmal Kapriolen schlug, es bei den Händen packen und mit ihm tanzen, damit alles leichter von der Seele ging.
Dass es auch anders ging, das wusste er nur zu gut.
Da brauchte er nur an Kathrin denken.
Oder eben an Kowalski.
Herrmann, wie die Alte ihn genannt hatte.
Mit ihm stieß Robert zusammen, nachdem er die beiden Herrschaften im Speisesaal abgegeben hatte, wo das Toastbrot, belegt mit Wurst und Marmelade, schon für sie vorbereitet war. Wo der Kaffe dampfte und die kleinen Milchpäckchen vorsorglich aufgerissen worden waren, weil die arthritischen Hände die auf die Packung geschweißte Lasche nicht mehr aufziehen konnten.
Er war gerade aus dem Fahrstuhl gekommen, hatte nach Monika gesucht und war über den schmalen Flur gegangen, der so unangenehm nach durchnässter Kleidung und Urin roch. Dort hatte er dann einen Blick in die nun offen stehende Tür geworfen. Da stand, in alten, an seinem Hintern herunterhängenden Cordhosen gekleidet, Hermann Kowalski, die Hände hinterm Rücken ineinander gelegt, den Blick hinaus aus dem Fenster gerichtet.
Monika, die um den alten Mann herum wuselte, redete unablässig, ohne dass Herrmann ihr antwortete.