Der Bruder. Thomas Tippner
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Bisher hatte er fast immer nur schwere, unangenehm in der Nase hängende und sich fast unmöglich aus der Kleidung wieder auszuwaschende Düfte von alten Menschen angetroffen.
Weil sie damit den Geruch des Dahinsiechens überdecken wollen, war ihm einmal ein gehässiger Gedanke gekommen, der ihm jetzt, wo er Kowalski da am Fenster stehen sah und sein Parfüm roch, leid tat.
Robert mochte es nicht, wenn man Vorurteile hatte.
Besonders wenn er sie hatte.
Schließlich war er Schriftsteller – ein Mann des Geistes, ein Poet der Fantasie. Grenzen, besonders geistige, waren da ein schlechter Ratgeber.
Gerade deswegen machte er sich daran, Kowalski genauer zu betrachten.
Gesichter waren ihm bekanntlich wichtig.
Und das hier war ein ganz Besonderes.
Er sah ihn nur im Profil, doch er hatte den Eindruck, einem Mann mit Würde gegenüberzustehen.
Nicht, dass man ihn falsch verstehen sollte.
Viele Menschen hatten Würde – viele strahlten sie nur nicht aus.
Hermann Kowalski war da anders. Er trug zwar einen alten Pullover und eine an seinem Hintern herunterhängende Hose, trotzdem war in seinen einst scharf geschnittenen Gesichtszügen etwas zu erkennen, das Robert faszinierte. Zunächst war er der Ansicht gewesen, dass es die von buschigen Augenbrauen dominierten blauen Augen waren - um sich dann anders zu entscheiden. Auch wenn das Licht, das darin leuchtete, bemerkenswert war, so waren es doch nicht sie, die ihn dastehen ließen wie ein vergessener Sohn, der darauf wartete, dass sein Vater ihn endlich vom Fußballtraining abholte.
Dann meinte er, dass es das von Bartstoppeln bedeckte Kinn sei, das Herman so standhaft aussehen ließ. Nur um dann zu merken, dass es nicht das Kinn war, nicht die von Kotletten bewachsenen Wangenknochen.
Es war der Mund. Faltig und runzlig, zu einem Lächeln verzogen.
Einem melancholischen Lächeln, ergänzte er in Gedanken, näherte sich Hermann und stellte sich vor: „Ich bin Robert. Ich arbeite seit heute hier.“
Hermann wand nicht den Kopf.
Er starrte weiter hinaus auf den unter ihm liegenden Park mit der großen Eiche als Zentrum. Von ihr liefen alle Wege kreuz und quer durch die Anlage und führten zu den unterschiedlichsten, meist in den Schatten liegenden Rastplätzen, auf denen die Alten und Gebrechlichen sich ausruhen konnten, wenn ihnen das Spazierengehen zu anstrengend wurde.
Was er da suchte, oder was er da sah, konnte Robert nicht sagen.
Er ahnte nur, dass Hermann nicht grundlos hinaus in den von Sonnenlicht durchfluteten Park schaute.
„Kann ich irgendwie helfen?“, wollte Robert wissen, dem das unangenehme Schweigen unerträglich war. „Hinunter begleiten in den Speisesaal vielleicht?“
„Hermann isst hier oben“, meinte Monika. „Er ist gerne für sich.“
„Ist das so?“
Robert stellte die Frage absichtlich in Hermanns Richtung, in der stillen Hoffnung auf eine Antwort.
Gab er ihm aber nicht.
Hermann stand weiterhin nur da, regte sich nicht und fixierte weiterhin irgendeinen Punkt im Park.
„Erzähl ich später mehr drüber. Wenn wir draußen sind. Magst du mir bitte einen neuen Kopfkissenbezug geben?“, bat Monika ihn. „Sein alter ist schon wieder ganz durchnässt.“
„Passiert, wenn man im Bett trinkt“, sagte Robert, ohne tadelnd klingen zu wollen. In dem Moment, in dem er die Worte ausgesprochen hatte, wusste er, dass sie genau das taten.
Was unpassend wirkte.
Wer war er schon, dass er sich an seinem ersten Tag herausnahm, einen Bewohner zurecht zu weisen?
Genau das, was er eben bei der Vorstellung vermisst hatte, bekam er nun.
Eine Reaktion von Hermann.
Er drehte sich nicht weg von seinem Platz, nahm nicht die Hände nach vorne, oder wand den Kopf, als er redete.
Er sprach.
Klar und deutlich. Mit einer festen Stimme, die bei alten Menschen nur selten war.
„Ich habe geweint“, sagte Hermann. „Weil ich meinen Bruder vermisse …“
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