Der Gewalt keine Chance. Martina Dr. Schäfer
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Auch wir Menschen haben im Grunde genommen noch solche Reviere. Unsere Vorfahren, die Australopithecinen in der afrikanischen Savanne oder die ersten Lagerfeuermacher im eiszeitlichen Europa, hatten sicherlich noch ein stärkeres Sensorium dafür als wir Menschen der Gegenwart. Aber wenn wir uns selbst ein bisschen genauer beobachten, können wir an uns selber durchaus noch solche Eigenarten wie eine Fluchtdistanz feststellen. So ist es beispielsweise den meisten Leuten sehr unangenehm, mit fremden Menschen irgendwo im Bus oder in der Straßenbahn zusammengepfercht herumstehen zu müssen; rappelvolle Kaufhäuser senken die Lust am Einkaufsbummel rapide, und das Gedrängel in einer Disco hält man eigentlich nur aus, weil in der Nähe die eigenen Leute herumtanzen, die Freundinnen und Freunde aus der Clique, mit der man losgezogen ist.
Eine Art von Revier ist also wohlungefähr die Länge der eigenen Arme, die auch gewissermaßen unsere Körperwaffen sind. Man hält unvertraute und fremde Menschen am liebsten mindestens eine Armlänge weit von sich. Aus dieser Distanz kann man übrigens auch am besten ihr Gesicht betrachten, ihre Mimik beobachten und daraus ihr Verhalten einschätzen. Auf der anderen Seite lässt man die Freundinnen, vertraute Menschen in diesen Bereich hinein.
Eine andere Möglichkeit, die in unserer Kultur vor allem Frauen nutzen, ist die Verstärkung des eigenen Körpergeruchs. Mehr oder weniger dezente Parfüms signalisieren: Mein Raum reicht so weit wie mein Geruch! Umgekehrt gibt es eine ganze Menge Menschen, die man «irgendwie» nicht riechen kann und von denen man dann sicherlich einen größeren Abstand braucht als nur eine Armlänge. Wenn Menschen mit ihrem Parfüm, ihrem Geruch einen ganzen Raum füllen, so empfinden wir das als dominant, nervig, unhöflich, vielleicht sogar ein bisschen nuttig. Ich hatte eine Tante, die drückte das, zum Schrecken meiner wohlerzogenen Frau Mama, so aus: «Diese Dame da stinkt wie ein ganzes Freudenhaus!» Meine Armlänge – die Flügelspannweite – ist also eine Distanz, der Körpergeruch eine weitere.
In Kursen erlebe ich häufig, wenn ich mit Frauen oder Mädchen Übungen zu diesem Thema durchführe, dass es noch eine mittlere Distanz zwischen der Geruchsentfernung und der Armlänge gibt: Sie ist länger als der etwa eine Meter der Flügelspannweite und kürzer als die drei bis fünf Meter des Geruchsreviers und befindet sich irgendwo dazwischen, etwa fünfzig bis achtzig Zentimeter außerhalb der Fingerspitzen der ausgestreckten Arme. Diese Entfernung nenne ich in Kinderkursen «Gartenzaun». Sie entspricht der Armlänge plus einem kleineren Schritt nach vorne. Der unmittelbare Meter der Armlänge ist das «Haus», manchmal gebrauche ich auch das Bild der «Raumkapsel » oder der «Adlerfittiche».
Man teilt die Menschen seiner Umgebung letztlich mehr oder minder bewusst danach ein, wie nahe man sie an sich herankommen lassen will: Wen lasse ich in mein «Haus», wen eigentlich lieber nur bis zum «Gartenzaun», und wen kann ich überhaupt nicht riechen und hätte am liebsten, dass er oder sie den Raum verlässt?
Das Problem ist aber, dass man insbesondere in abhängigen Situationen, in Gruppen/Situationen, die man nicht vermeiden kann, wie beispielsweise Schule und Ausbildung – aber eigentlich doch schon morgens im Bus auf der Fahrt zu dieser Schule oder diesem Ausbildungsplatz –, immer wieder Menschen über seine persönlichen Distanzschwellen treten lassen muss: Lehrer bauen sich hinter dem Rücken auf, weil sie ins Heft oder auf den Computermonitor schauen müssen, Meister schauen einem an der Drehbank auf die Finger, wildfremde Leute quetschen sich im Bus neben einen auf die Bank.
Wir könnten diese ständige Nähe gar nicht aushalten, wenn wir nicht davon ausgingen, dass sich all diese zusammengepferchten Menschen eigentlich nichts Böses antun wollen, dass der Lehrer helfen, der Meister Tipps geben will und der Dicke auf der Bank nur müde Füße hat. Ohne ein grundsätzliches Vertrauen in die Gutwilligkeit unserer Mitbürger könnten wir gar nicht auf dem engen Raum zusammenleben, den uns eine moderne Gesellschaft aufzwingt.
Neben dem Vertrauen weiß man aber auch, dass es Regeln gibt, wie jeder Mensch sich anständig und unaufdringlich zu verhalten hat. Diese Regeln sind teilweise als Gesetze niedergelegt, teilweise auch unausgesprochene Gewohnheiten. Man hält sich selber daran und setzt deshalb voraus, dass andere das auch tun. Außerdem gibt es Beschwichtigungsrituale, um die engen Situationen erträglich zu machen: Der müde korpulente Herr lächelt uns entschuldigend an, wenn er sich in die Bank zwängt; der Lehrer räuspert sich und taucht nicht auf leisen Sohlen plötzlich hinter einem auf; der Meister fragt, ob er das mal genauer zeigen dürfe, und bittet einen, von der Werkbank zurückzutreten.
Da höre ich auch schon einige der – insbesondere jüngeren – Leserinnen lachen! Das sei eine Utopie, die da beschrieben werde, sagen sie. Der dicke Herr lächelt nicht, sondern schnauft nur empört, wenn man sich nicht sofort zusammenfaltet; der Lehrer schleicht sich durchaus heimlich an; und der Meister schiebt einen einfach ohne große Worte zur Seite. Man ist in dieser Hinsicht allerlei gewohnt und lässt es geschehen. Genauer gesagt: Man ist abgestumpft – aber ohne eine solche Abstumpfung müsste man, insbesondere als Frau, permanent schreiend durch die Gegend laufen.
Die Utopie des vollendeten, höflichen und rücksichtsvollen Verhaltens kann sich gar nicht total durchsetzen. Aber jeder kennt die angenehmen Verhaltensweisen von Menschen, die aus kleinen und dichtbesiedelten Ländern kommen, die noch dazu bereits seit Jahrhunderten wegen hoher Berge, tiefer Täler oder schmaler Insellandschaften auf engstem Raum zusammengedrängt leben mussten: die Höflichkeit der Schweizer und Japaner beispielsweise.
Dass der Meister seinen Lehrling ungefragt beiseiteschieben darf, hat natürlich auch etwas mit dem Machtgefälle zwischen den beiden zu tun: Der Lehrling ist von seinem Ausbilder abhängig, die Schülerin in ähnlicher Weise vom Lehrer. Nur von dem korpulenten Herrn auf der Bank ist man nicht abhängig, weshalb man sich sehr gut vorstellen kann, diesen eventuell anzuschnauzen, wenn er einen gar zu heftig in die Ecke quetscht, denn außer dass dieser zurückschnauzt, kann nicht viel passieren. Lehrer und Meister könnten dagegen auch eine höfliche Bitte um Rücksichtnahme in den falschen Hals bekommen, die Noten herabsetzen oder das Fegen der Werkstatt nach Feierabend verordnen.
Neben der Grenzüberschreitung – hier das Niederwalzen des «Gartenzaunes» – ist also die Abhängigkeit das große Problem. Es geht um die Bereitschaft des Lehrers, des Meisters, trotz seiner vorgesetzten Position die Distanz zu seiner Schülerin zu achten und die Regeln der Höflichkeit und Rücksichtnahme auch im Rahmen einer hierarchischen Beziehung einzuhalten.
Wir werden sehen, dass es natürlich durchaus solche Leute gibt. In meinen Augen zeichnet die Bereitschaft, Jüngeren und Schwächeren nachzugeben und ihre Integrität zu achten, sogar einen guten Lehrer und auch andere Menschen aus. Lehrherren, die man nicht einmal bitten kann, doch etwas weiter zur Seite zu treten, Lehrer die jovial-unbewusst permanent in den «Gärten» ihrer Schülerinnen und Schüler herumlatschen, ohne auf deren Abwehrmechanismen oder Bitten um Distanz zu reagieren, sollten lieber noch einmal eine Runde in ihrem Studium, ihrem Meisterkurs drehen.
Aber das gilt auch umgekehrt: Nicht jeder Erwachsene fällt begeistert in Ohnmacht, wenn sich kleine, manchmal etwas verdreckte Kids an seine Arme hängen; nicht jede Frau ist glücklich, wenn man ihr ungefragt einen Säugling in den Arm drückt; nicht jeder Pädagoge freut sich über hautnah herandrängende Jugendliche. Man muss immer die Möglichkeit haben zu sagen: «Gehen Sie bitte etwas zur Seite», ohne unangenehme Folgen für sich damit heraufzubeschwören. Leute, bei denen man sich das nicht getraut, aus welchen Gründen auch immer, und Leute, die nicht auf solch eine Bitte eingehen, sind keine angenehmen Zeitgenossen und sollten uns zu denken geben.