Winnetou. Karl May
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»Das nicht. Es fällt mir gar nicht ein, ihn gering zu schätzen; aber unüberwindlich, wie Ihr sagt, ist er jedenfalls nicht. Kein Raubtier ist unüberwindlich, auch der Grizzly nicht.«
»Das habt Ihr wohl auch gelesen?«
»Ja.«
»Hm! Ich glaube, die Bücher, welche Ihr gelesen habt, sind an Euerm Leichtsinn schuld. Ihr seid doch sonst ein ganz verständiger Kerl, wenn ich mich nicht irre. Ihr wäret imstande und gingt auf einen grauen Bären grad so los wie gestern auf die Bisons.«
»Wenn ich nicht anders könnte ja.«
»Nicht anders könnte! Unsinn! Was meint Ihr mit diesen Worten? Jeder Mensch kann anders, wenn er will!«
»Das heißt, er kann ausreißen, wenn er feig ist. Das meint Ihr doch?«
»Ja; aber von feig sein ist dabei keine Rede. Es ist keine Feigheit, den Grizzly zu fliehen; im Gegenteile, es ist geradezu Selbstmord, der reinste Selbstmord, ihn anzugreifen.«
»Da gehen unsere Ansichten auseinander. Wenn er mich überrascht und mir keine Zeit zur Flucht läßt, muß ich mich wehren. Wenn er sich über einen Kameraden von mir hermacht, muß ich diesem zu Hilfe kommen. Das sind zwei Fälle, in denen ich nicht fliehen kann oder darf. Und außerdem kann ich es mir ganz gut denken, daß ein kühner Westmann es mit dem grauen Bären auch ohne Not aufnimmt, um seinen Mut zu betätigen, ein so gefährliches Raubtier unschädlich zu machen und nebenbei sich dann die Schinken und die Tatzen ausgezeichnet schmecken zu lassen.«
»Ihr seid ein ganz unverbesserlicher Mensch, und es wird mir himmelangst um Euch. Dankt lieber Gott, wenn Ihr diese Schinken und Tatzen niemals kennen lernt! Dabei will ich freilich nicht verhehlen, daß es keine größere Delikatesse gibt, soweit die Erde reicht; sie gehen sogar noch weit über die feinste Büffellende.«
»Wahrscheinlich braucht Ihr jetzt noch nicht um mich besorgt zu sein. Oder sollte es auch hier in dieser Gegend graue Bären geben?«
»Warum nicht? Der Grizzly kommt im ganzen Gebirge vor; er folgt den Flüssen und geht zuweilen sogar weit in die Prärie hinein. Wehe dem, auf den er trifft! Reden wir nicht mehr davon!«
Er ahnte ebensowenig wie ich, daß schon am nächsten Tage dieses Thema wieder und noch ganz anders als heut zur Sprache kommen und dieses so gefürchtete Tier uns in den Weg treten werde. Es gab überhaupt keine Zeit, das Gespräch fortzuführen, denn wir waren jetzt bei dem Lager angelangt. Man hatte es eine ziemliche Strecke vorgeschoben, weil dieselbe während unserer Abwesenheit vermessen worden war. Bancroft hatte sich mit den drei Surveyors außerordentlich ins Zeug gelegt, um endlich auch einmal zu zeigen, was er leisten konnte. Wir erregten Aufsehen.
»Ein Maultier, ein Maultier!« wurde gerufen. »Wo habt Ihr es her, Hawkens, woher?«
»Direkt geschickt bekommen,« antwortete er im ernsthaftesten Tone.
»Nicht möglich! Von wem, von wem?«
»Durch die Eilpost, per Kreuzband für zwei Cents. Wollt ihr den Umschlag vielleicht sehen?«
Einige lachten, die Andern schimpften; aber er hatte seinen Zweck erreicht; man fragte ihn nicht weiter. Ob er gegen Dick Stone und Will Parker jetzt gleich mitteilsamer war, konnte ich nicht beobachten, weil ich mich sofort an der Vermessungsarbeit beteiligte. Diese schritt bis zum Abend so weit fort, daß wir morgen früh das Tal in Angriff nehmen konnten, in welchem wir gestern das Zusammentreffen mit den Bisons gehabt hatten. Als wir am Abende davon sprachen, fragte ich Sam, ob wir da vielleicht von den Büffeln gestört werden könnten, da diese, wie es ja scheinen wollte, ihre Richtung durch das Tal einschlagen würden. Wir hatten es mit einem Vortrupp zu tun gehabt und konnten uns nun wohl auf das Erscheinen der Hauptherde gefaßt machen. Da antwortete er:
»Denkt das ja nicht, Sir! Die Bisons sind nicht weniger klug als die Mustangs. Die von uns verjagten Vorposten sind zurückgekehrt und haben die Herde gewarnt; diese schlägt nun sicher eine ganz andere Richtung ein und wird sich hüten, durch dieses Tal zu kommen.«
Als der Morgen anbrach, verlegten wir unser Lager nach dem oberen Teil desselben. Hawkens, Stone und Parker beteiligten sich nicht daran, denn der Erstere wollte seine neue ›Mary‹ zureiten, und die beiden Andern begleiteten ihn, als er sich nach der Prärie entfernte, auf welcher wir das Maultier gefangen hatten; dort gab es für sein Vorhaben Platz genug.
Wir Surveyors beschäftigten uns zunächst mit dem Anbringen der Messstangen, wobei uns einige Untergebene von Rattler halfen; dieser selbst schlenderte mit den Andern nichtstuend in der Umgebung herum. Dabei kamen wir und auch er der Stelle näher, an welcher ich die beiden Büffels erlegt hatte. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich da, daß der alte Bulle nicht mehr da war. Wir gingen hin und sahen, daß von dem Punkte, wo er gelegen hatte, eine breite Spur nach den Büschen führte; das Gras war gegen zwei Ellen breit niedergeschleift.
»Alle Wetter! Ist so etwas möglich?« rief Rattler aus. »Ich habe, als wir das Fleisch holten, die beiden Bullen doch genau untersucht; sie waren tot, und doch hat dieser hier noch Leben in sich gehabt.«
»Meint Ihr das?« fragte ich ihn.
»Jawohl. Oder denkt Ihr, daß ein toter Büffel sich entfernen kann?«
»Muß er sich selbst entfernt haben? Er kann doch auch entfernt worden sein.«
»So? Von wem denn?«
»Von Indianern zum Beispiel. Wir haben weiter oben die Spur eines Indianerfußes entdeckt.«
»So! Wie klug und weise doch so ein Greenhorn reden kann! Wenn er von Indianern fortgeschafft worden wäre, woher sollen diese gekommen sein?«
»Irgend woher.«
»Das ist sehr richtig. Vielleicht sogar vom Himmel herunter! Denn von da herunter müssen sie gefallen sein, weil man sonst ihre Fährte sehen müßte. Nein, es ist noch Leben in dem Büffel gewesen, und er hat sich, als er erwachte, von hier fort und in die Büsche geschleppt; dort ist er natürlich inzwischen verendet. Wollen gleich einmal nachsuchen.«
Er ging mit seinen Leuten der Spur nach. Vielleicht hatte er geglaubt, ich würde mitgehen; ich tat dies aber nicht, denn die höhnische Art und Weise, in der er mit mir gesprochen hatte, gefiel mir nicht, und ich hatte zu arbeiten; übrigens konnte es mir auch sehr gleichgültig sein, wohin die Leiche des alten Bullen gekommen war. Ich wendete mich also meiner Beschäftigung wieder zu, hatte aber noch nicht zur Messstange gegriffen, als aus dem Gebüsch ein vielstimmiges Angstgeschrei erscholl; zwei, drei Schüsse krachten, und dann hörte ich Rattler rufen:
»Auf die Bäume, schnell auf die Bäume, sonst seid ihr verloren! Er kann nicht klettern.«
Wen meinte er, der nicht klettern konnte? Da kam einer seiner Leute aus dem Gebüsch gesprungen, und zwar in Sätzen, wie man sie nur in der Todesangst zu machen vermag.
»Was ist's, was gibt's?« rief ich ihm zu.
»Ein Bär, ein gewaltiger Bär, ein grauer Grizzlybär!« keuchte er, indem er an mir vorüberrannte.
Zu gleicher Zeit schrie eine zeternde Stimme:
»Zu Hilfe, zu Hilfe! Er hat mich fest! Oh, oh!«
In dieser