SIE. Henry Rider Haggard

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Onkel Horace«, erwiderte Leo, der mich seit seiner Kindheit Onkel zu nennen pflegte.

      Job salutierte scherzhaft, indem er sich mit der Hand an die Schläfe tippte.

      »Verschließe die Tür, Job«, sagte ich, »und hole meine Dokumentenmappe.«

      Er brachte sie, und ich entnahm ihr die Schlüssel, die mir Vincey, Leos armer Vater, in der Nacht vor seinem Tode übergeben hatte. Es waren drei - der größte ein verhältnismäßig moderner Schlüssel, der zweite uralt und der dritte ein ganz merkwürdiges Ding, wie ich es nie zuvor gesehen hatte: er bestand aus massivem Silber, hatte eine als Griff dienende Querstange, in die mehrere Kerben eingeschnitten waren, und ähnelte so einem vorsintflutlichen Schraubenschlüssel.

      »Seid ihr bereit?«, fragte ich, als wollte ich eine Mine sprengen. Da beide schwiegen, nahm ich den großen Schlüssel, strich etwas Salatöl auf den Bart, steckte ihn, nachdem meine zitternde Hand zweimal danebengetroffen hatte, ins Schloss und drehte ihn herum. Leo beugte sich vor, packte mit beiden Händen den Deckel und klappte ihn auf, was ihn einige Mühe kostete, da offenbar die Scharniere eingerostet waren. Ein zweiter, ebenfalls dick mit Staub bedeckter Kasten stand darin. Wir nahmen ihn ohne Schwierigkeiten heraus und säuberten ihn mit einer Kleiderbürste.

      Er schien aus Ebenholz oder einem anderen ähnlich festen schwarzen Holz zu bestehen und war auf allen Seiten von schmalen Eisenbändern umschlossen. Da das schwere Holz an manchen Stellen schon ganz morsch und bröcklig war, musste er ungeheuer alt sein.

      »Nun diesen«, sagte ich und führte den zweiten Schlüssel ein.

      Job und Leo beugten sich in atemloser Spannung vor. Der Schlüssel drehte sich, ich hob den Deckel und stieß einen Schrei aus - kein Wunder, denn in dem Ebenholzkasten stand ein wunderbares Silberkästchen, etwa zwölf Zoll breit und acht Zoll hoch. Es schien eine ägyptische Arbeit zu sein, denn die vier Füße stellten Sphinxe dar, und auch der gewölbte Deckel trug eine Sphinx. Das Kästchen war natürlich infolge seines hohen Alters voller Flecken und Beulen, doch ansonsten recht gut erhalten.

      Ich hob es heraus, stellte es auf den Tisch, steckte unter tiefem Schweigen den merkwürdigen Silberschlüssel hinein und drehte ihn vorsichtig hin und her, bis das Schloss endlich nachgab und das Kästchen offen vor uns stand. Es war bis zum Rand mit Schnitzeln aus irgendeinem braunen Material gefüllt, das eher Pflanzenfasern als Papier glich. Als ich eine etwa drei Zoll dicke Schicht entfernte, stieß ich auf einen Brief in einem gewöhnlichen modernen Umschlag, auf dem in der Schrift meines Freundes Vincey stand:

      »An meinen Sohn Leo, falls er dieses Kästchen öffnet.«

      Ich gab den Brief Leo, der einen Blick auf den Umschlag warf, ihn auf den Tisch legte und mir bedeutete fortzufahren.

      Als nächstes kam ein sorgfältig zusammengerolltes Pergament zum Vorschein. Ich rollte es auf und sah, dass es ebenfalls von Vincey beschrieben war und die Überschrift trug: Übersetzung der griechischen Unzialschrift auf der Scherbe. Nachdem ich es neben den Brief gelegt hatte, nahm ich eine zweite, stark vergilbte und zerknitterte Pergamentrolle heraus. Als ich sie aufrollte, stellte ich fest, dass es gleichfalls eine Übersetzung der griechischen Unzialschrift war, jedoch in Mönchslatein; Stil und Form der Lettern deuteten darauf hin, dass sie aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts stammten. Unter dieser Rolle lag auf einer zweiten Schicht des faserigen Materials ein harter, schwerer, in gelbe Leinwand gehüllter Gegenstand. Langsam und behutsam entfernten wir das Leinen und fanden darunter eine sehr große, ohne Zweifel überaus alte Scherbe von schmutzig-gelber Farbe. Sie schien von einer mittelgroßen Amphora zu stammen und war zehneinhalb Zoll lang, sieben Zoll breit, etwa einen viertel Zoll dick und auf der Außenseite dicht mit einer stellenweise verblichenen, doch größtenteils gut lesbaren griechischen Unzialschrift bedeckt, die mit größter Sorgfalt ausgeführt war, offenbar mittels einer Rohrfeder, deren sich die Alten häufig zu bedienen pflegten. Irgendwann vor langer Zeit war dieses wunderbare Fragment einmal in zwei Stücke zerbrochen und mit Zement und acht langen Nieten wieder zusammengefügt worden. Auch auf der Innenseite befanden sich zahlreiche Inschriften, die jedoch von der verschiedensten Art waren, also anscheinend von verschiedenen Händen und aus verschiedenen Zeiten stammten.

      »Ist noch mehr drin?«, flüsterte Leo aufgeregt.

      Ich tastete herum und holte etwas Hartes hervor, das in einen kleinen Leinenbeutel eingenäht war. Darin befanden sich ein hübsches Miniaturbild aus Elfenbein und ein kleiner schockoladenbrauner, mit Symbolen verzierter Skarabäus.

      Wie wir später feststellten, bedeuteten die Symbole Suten se Ra, dass heißt: Königlicher Sohn Ras oder der Sonne. Das Miniaturbild stellte Leos Mutter dar - eine hübsche dunkeläugige Griechin. Auf der Rückseite stand in Vinceys Handschrift: »Mein geliebtes Weib.«

      »Das ist alles«, sagte ich.

      »Gut«, erwiderte Leo und legte das Bild, das er zärtlich betrachtet hatte, hin. »Nun lass uns den Brief lesen.« Ohne Zögern erbrach er das Siegel und las uns folgendes vor:

      »Mein Sohn Leo!

      Wenn Du diesen Brief öffnest, hast Du das Mannesalter erreicht, und ich bin schon so lange tot, dass fast alle, die mich kannten, mich vergessen haben werden. Bedenke jedoch, wenn Du dies liest, dass ich gewesen bin und - wer weiß? - vielleicht noch bin, dass ich Dir durch diesen Brief über den Abgrund des Todes die Hand reiche und aus der Stille des Grabes zu Dir spreche. Obwohl ich tot bin und Du Dich meiner nicht erinnerst, bin ich in der Stunde, da Du dieses liest, dennoch bei Dir. Seit Deiner Geburt bis zum heutigen Tage habe ich Dein Gesicht kaum gesehen. Vergib mir das, mein Sohn. Dein Leben kostete das Leben einer Frau, die ich von ganzem Herzen liebte, und der Schmerz darüber erfüllt mich heute noch. Wäre ich am Leben geblieben, so hätte ich dieses törichte Gefühl gewiss überwunden; doch es ist mir nicht beschieden weiterzuleben. Meine Leiden, körperlich und geistig, übersteigen meine Kraft, und sobald ich alle Vorkehrungen für Dein künftiges Wohlergehen getroffen habe, gedenke ich ihnen ein Ende zu bereiten. Möge Gott mir verzeihen, falls ich unrecht handle. Doch mir ist ohnedies bestenfalls nur noch ein Jahr beschieden.«

      »Er hat also Selbstmord begangen«, rief ich aus. »Dacht' ich's mir doch!«

      »Doch nun genug von mir«, las Leo, ohne darauf einzugehen, weiter. »Was ich noch zu sagen habe, soll Dir, dem Lebenden, gelten - nicht mir, dem Toten, der schon so vergessen ist, als hätte er niemals gelebt. Mein Freund Holly (dem ich Dich, wenn er damit einverstanden ist, anvertrauen werde) wird Dir wohl von dem ungewöhnlich hohen Alter Deines Geschlechts erzählt haben. In diesem Kästchen findest Du genügend Beweise dafür. Die Scherbe mit der von Deiner fernen Ahne niedergeschriebenen Legende hat mir mein Vater auf seinem Totenbett übergeben, und seither hat sie unablässig meine Phantasie beschäftigt. Schon mit neunzehn Jahren beschloss ich, gleich einem unserer Vorfahren zur Zeit der Königin Elisabeth, den dieser Entschluss ins Unglück stürzte, ihr Geheimnis zu ergründen. Was ich dabei erlebte, kann ich hier nicht näher schildern, doch dies habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen: An der Küste Afrikas, in einer bisher unerforschten Gegend nördlich der Sambesi-Mündung, befindet sich ein Vorgebirge, an dessen äußerster Spitze ein Fels aufragt, der, ganz wie ihn die Inschrift schildert, die Form eines Negerkopfes hat. Als ich dort landete, erfuhr ich von einem umherziehenden Eingeborenen, der wegen eines Verbrechens von seinem Stamm ausgestoßen worden war, dass es tief im Landesinnern große becherförmige Gebirge und von endlosen Sümpfen umgebene Höhlen gibt. Er berichtete mir weiter, dass die Leute dort eine arabische Mundart sprechen und von einer schönen weißen Frau beherrscht werden, die sie nur selten zu Gesicht bekommen, die aber über alle Lebende und Tote Macht haben soll. Zwei Tage, nachdem er mir dies erzählt hatte, starb dieser Mann an einem Fieber, welches er sich beim Durchqueren der Sümpfe zugezogen hatte, und Mangel an Lebensmitteln und die Symptome einer Krankheit, die mich später aufs

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