Zärtlich ist die Nacht. F. Scott Fitzgerald
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Читать онлайн книгу Zärtlich ist die Nacht - F. Scott Fitzgerald страница 12
»Sie kam gestern und heute zum Lunch herunter«, sagte Franz. »Sie schien etwas abwesend und in den Wolken. Wie verlief es?«
Dick versuchte, den alpinen Abgrund zwischen den Geschlechtern zu überbrücken.
»Wir kamen gar nicht so weit – jedenfalls hatte ich den Eindruck. Ich versuchte, mich zurückzuziehen, aber ich glaube nicht, daß genug geschehen ist, um ihre Einstellung zu ändern, wenn es überhaupt tief ging.«
Vielleicht sprach aus ihm gekränkte Eitelkeit, weil es kein Todesstoß gewesen war.
»Aus einigem, was sie zu der Schwester sagte, möchte ich entnehmen, daß sie begriffen hat.«
»Sehr schön.«
»Es war das beste, was passieren konnte. Sie scheint nicht hypererregt – nur etwas in den Wolken.«
»Na also!«
»Komm mich bald besuchen, Dick.«
VIII
In den nächsten Wochen empfand Dick eine gewaltige Unzufriedenheit. Der pathologische Ursprung und das mechanische Beenden der Angelegenheit ließen einen faden, metallischen Nachgeschmack zurück. Nicoles Gefühlen war übel mitgespielt worden – wie, wenn es sich nun herausstellen würde, daß es seine eigenen gewesen waren? Notgedrungen mußte er sich eine Zeitlang das Glück fernhalten – im Traum sah er sie auf den Klinikwegen dahinschreiten und ihren Strohhut schwingen.
Einmal sah er sie in Person; als er am Palast-Hotel vorbeiging, bog ein prächtiger Rolls Royce in die halbmondförmige Auffahrt ein. Im Vergleich zu seinen riesigen Ausmaßen klein wirkend und von hundert überflüssigen Pferdekräften gezogen, saß Nicole darin, mit einer jungen Dame, die er für ihre Schwester hielt. Nicole sah ihn, und alsbald öffneten sich ihre Lippen in einem Ausdruck des Schreckens. Dick zog seinen Hut und ging vorüber, doch war die Luft um ihn einen Augenblick erfüllt vom Geräusch all der umherschwirrenden Kobolde des Großmünsters. Er versuchte, sich die Sache von der Seele zu schreiben, in einer Denkschrift, die ausführlich das traurige Leben behandelte, das vor ihr lag, und die Möglichkeiten eines neuen Ausbruches der Krankheit unter dem Druck, den die Welt unweigerlich auf sie ausüben würde – alles in allem eine Denkschrift, die wohl jeden überzeugt hätte außer dem, der sie geschrieben hatte.
Im großen und ganzen war der Zweck dieser Bemühung, sich noch einmal darüber klarzuwerden, inwieweit er gefühlsmäßig beteiligt war; von da an sorgte er entschlossen für Gegenmittel. Eins davon war die Telefonistin aus Bar-sur-Aube, die jetzt durch Europa, von Nizza nach Koblenz, eine verzweifelte Treibjagd nach den Männern veranstaltete, die sie in ihrer unvergleichlich schönen Urlaubszeit kennengelernt hatte; ein weiteres war, daß er Anstalten traf, im August mit einem Regierungstransport nach Hause zu fahren; ein drittes die konsequente Steigerung seiner Arbeit an den Korrekturbogen für das Buch, das den Psychiatern der Deutsch sprechenden Welt im Herbst vorliegen sollte.
Dick war dem Buch längst entwachsen; nun wollte er praktische Forschungsarbeit leisten. Wenn er einen Posten als Assistent bekam, mußte ihm eine Menge Material zufallen.
Inzwischen hatte er ein neues Werk geplant: »Ein Versuch, die Neurosen und Psychosen einheitlich und pragmatisch zu klassifizieren, auf Grund der Untersuchung von fünfzehnhundert Prä-Kraepelin- und Post-Kraepelin-Fällen, wie sie in der Terminologie der verschiedenen zeitgenössischen Schulen diagnostiziert werden würden – sowie eine Chronologie solcher Meinungsabweichungen, die unabhängig entstanden sind.«
Dieser Titel würde monumental wirken.
Nach Montreux fuhr Dick langsam mit dem Rad, sah soviel wie möglich nach dem Jugenhorn aus und war von dem Glitzern des Sees geblendet, der durch die Alleen der Strandhotels hindurchschimmerte. Ihm fielen die Scharen von Engländern auf, die nach vierjähriger Pause wieder zum Vorschein gekommen waren und mit mißtrauischen Detektivblicken umhergingen, so als könnten sie in diesem verdächtigen Lande jeden Augenblick von deutschen Räuberbanden überfallen werden. Überall ein Neu-Aufbauen und Wiedererwachen in dieser Welt, die eine Sturmflut in Trümmer gelegt hatte. Auf seinem Weg nach Süden, in Bern und in Lausanne, hatte man Dick neugierig gefragt, ob wohl in diesem Jahr Amerikaner kommen würden. »Im August oder am Ende schon im Juni?«
Er trug kurze Lederhosen, ein Militärhemd und Bergschuhe. In seinem Rucksack befanden sich ein Leinenanzug und einmal Unterwäsche zum Wechseln. Bei der Glion-Drahtseilbahn gab er sein Rad auf und trank auf der Terrasse der Bahnhofswirtschaft ein kleines Bier; dabei beobachtete er, wie die Bahn wie ein kleiner Käfer den Bergabhang von achtzig Grad heruntergekrochen kam. Sein Ohr war voll von geronnenem Blut, weil er auf dem Tour de Pelz, im Gefühl, daß ein Athlet an ihm verlorengegangen sei, eine Spurtstrecke eingelegt hatte. Er ließ sich Alkohol geben und reinigte die Ohrmuschel, während die Drahtseilbahn zur Station herabglitt. Er sah, wie sein Rad verstaut wurde, warf seinen Rucksack in das untere Abteil und stieg selbst hinein.
Die Wagen von Drahtseilbahnen im Gebirge sind in schiefer Ebene gebaut, ähnlich der heruntergezogenen Hutkrempe eines Mannes, der nicht erkannt werden will. Wasser entströmte dem Hohlraum unter dem Wagen; auf Dick machte das Geniale dieser Erfindung großen Eindruck – der andere Wagen auf dem Berggipfel nahm jetzt Wasser ein und würde den erleichterten Wagen, sobald die Bremsen gelockert waren, nach dem Gesetz der Schwerkraft hochziehen. Das war entschieden eine große Erfindung. Auf der Bank gegenüber unterhielten sich zwei Engländer über das Kabel selbst.
»Die in England hergestellten halten immer fünf bis sechs Jahre. Vor zwei Jahren hatten uns die Deutschen unterboten, und wie lange, meinen Sie, hat ihr Kabel gehalten?«
»Wie lange denn?«
»Ein Jahr und zehn Monate. Dann hat die Schweiz es an die Italiener verkauft. Bei denen ist die Kabelkontrolle nicht so streng.«
»Ich kann mir vorstellen, daß es für die Schweiz entsetzlich wäre, wenn ein Kabel risse.«
Der Wagenführer schloß die Tür, er telefonierte mit seinem Kollegen oben zwischen den Berghängen, und mit einem Ruck wurde der Wagen angezogen und trieb auf die Spitze eines saftiggrünen Berges zu. Nachdem er die niedrigen Dächer unter sich gelassen hatte, breitete sich der Himmel von Vaud, Wallis, Savoyen und Genf wie ein Panorama um die Fahrgäste aus. Im Mittelpunkt des Sees, von dem hindurchfließenden Strom der Rhône erfrischt, lag der wahre Mittelpunkt der westlichen Welt. Auf ihm schwammen Schwäne, die Booten, und Boote, die Schwänen glichen, beide im Nichts der gefühllosen Schönheit verloren. Es war ein schöner Tag, die Sonne glitzerte auf dem Grasufer unten und auf den weißen Plätzen vor dem Kurhaus. Die Menschen auf den Plätzen warfen keinen Schatten.
Als Chillon und das Inselschloß Salagnon in Sicht kamen, wandte Dick seine Blicke dem Innern des Wagens zu. Die Drahtseilbahn befand sich über den höchsten Häusern des Ufers; zu beiden Seiten erschien von Zeit zu Zeit in einer Fülle von Farben ein Gewirr von Laub und Blumen. Es waren Gärten, die an der Bahn entlangliefen, und im Wagen war eine Tafel: »Défense de cueillir les fleurs.«
Man durfte während der Fahrt nach oben die Blumen zwar nicht pflücken, aber die Blütenzweige drangen beim Vorbeifahren herein – Dorothy Perkins-Rosen ließen sich geduldig durch jedes Abteil schleifen, schaukelten gemächlich in der Bewegung des Wagens, gaben schließlich nach, um zu ihren rosa Blütenbüscheln zurückzuschnellen. Wieder und immer wieder schwankten diese Zweige durch den Wagen.
Dick gegenüber, in dem höherliegenden Abteil, erhob sich eine Gruppe von Engländern und erging sich in erstaunten