Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo Deutsch
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„Seien Sie unbesorgt, das bringt man schon fertig! Nichts wäre leichter, als eine Einwilligung Deutschlands zu erlangen, und dann würde man Sie nach Gebühr aburteilen. Leute, die weniger auf dem Kerbholz hatten als Sie, Malinka, Drebjasgin, Maidanski, sind längst hingerichtet. Und Sie? Aus dem Gefängnis sind Sie durchgebrannt, als man Sie wegen des Attentats gegen Gorinowitsch endlich erwischt hatte; dann haben Sie noch volle acht Jahre allerlei angestiftet, haben noch mit Stefanowitsch die Tschigiriner Verschwörung angezettelt usw. usw. Und diese vielen Geschichten sollen Ihnen jetzt nicht mehr als einige Jahre Zwangsarbeit einbringen? – das passte der Regierung nicht in den Kram! – Als man Sie also ausgeliefert hatte, wurde in den Höheren Kreisen eine besondere Beratung abgehalten. Ich war natürlich nicht dabei, ich zähle nicht zu den Auserwählten, aber man hat mir erzählt, was es dort gab. Anfangs waren alle einig, eine Änderung des Auslieferungsvertrages herbeizuführen, damit man Sie vor ein Ausnahmegericht stellen könne. Dann – Sie können es sich ungefähr denken – hätte man kurzen Prozess mit Ihnen gemacht! Aber einer von den Hauptpersonen kamen Bedenken, dieser Herr meinte: „Gut, Deutschland wird uns den Gefallen tun; ist das aber ein Vorteil für uns? Jetzt hat man den Deutsch abgefasst; morgen kann in irgendeinem anderen Lande ein noch viel besserer Fang gemacht werden. Dann dürfte es aber schwer werden, die Auslieferung des Betreffenden zu erlangen; die Presse wird Lärm schlagen, man wird behaupten, Russland respektiere die Verträge nicht, und wird sich auf das Beispiel mit Deutsch berufen? Diese Ansicht gewann die Majorität, und nur deshalb hat man beschlossen, die Anklage gegen Sie nur wegen des Attentats gegen Gorinowitsch zu erheben. Aus diesem Grunde nun hatte man Sie in der Peter-Pauls-Feste gelassen, bis der Beschluss feststand.“
Es ist möglich, dass Kotljarewski mir dieses „Staatsgeheimnis“ verriet, um mir die Zunge zu lösen: vielleicht aber hat er in der Tat dabei keine Hintergedanken gehabt, sondern aus freien Stücken aus der Schule geschwatzt. Im weiteren Verlaufe des Gesprächs berührte er die verschiedensten Dinge. Als unter anderem die Rede von den politischen Verfolgungen in Russland war, wies ich darauf hin, dass so oft absolut harmlose Menschen zu grausamen Strafen verurteilt werden.
„Was wollen Sie“, erwiderte er, „wo Bäume gefällt werden, gibt es Späne. Schon die alten Römer wussten: summa jus, summa injuria. Übrigens bin ich persönlich gegen die Todesstrafe. Ich sage mir: in einem großen Staate sind politische Verbrechen unvermeidlich; unter einer Bevölkerung von vielen Millionen muss es stets ein paar tausend Unzufriedene geben. Natürlich muss man gegen die Wühler vorgehen. Aber eine starke Regierung kann sie unschädlich machen, ohne zur Todesstrafe greifen zu müssen.“
Bei diesem Thema angelangt, fragte er dann scheinbar nebenbei, wie viel Terroristen nach meiner Meinung wohl noch in Russland vorhanden sein können? Ich antwortete, dass ich darüber nichts wisse, da ich selbst nicht der terroristischen, sondern der sozialdemokratischen Partei angehöre.
„Freilich, aber als ‚befreundete Macht’ werden Sie doch wohl annähernd über die Stärke der Terroristen orientiert sein. Ich glaube nämlich, dass es nur noch ganz wenige sein können“, meinte er.
In jener Zeit waren in der Tat nur noch sehr wenige aktive Terroristen in Russland übrig geblieben. Ich wollte aber Kotljarewski in seiner Meinung über die „befreundete Macht“ nicht bestärken und sagte ihm, dass meiner Schätzung nach „kaum einige tausend Terroristen vorhanden sein könnten, nicht mehr“.
„Wo denken Sie hin“, rief er, „das ist ganz unmöglich! Ich rechne höchstens ein paar hundert; in der letzten Zeit haben ja Massenverhaftungen stattgefunden.“
Ich widersprach ihm, was ihn zu ärgern schien.
Zu jener Zeit, das heißt im Sommer 1884, waren in dem Untersuchungsgefängnis eine Anzahl Personen inhaftiert, die verschiedener „Staatsverbrechen“ beschuldigt waren. Eines dieser „Verbrechen“, das die Verhaftung zahlreicher Personen in Petersburg, Moskau, vielen kleineren Städten und selbst in Sibirien veranlasst hatte, nannte Kotljarewski „die Affäre der alten Hosen“. Auf meine Frage erzählte er mir folgendes über diese Haupt- und Staatsaktion:
„Bei einer Haussuchung hatte man einen Zettel gefunden, auf dem die Namen jener Personen verzeichnet waren, die behilflich waren, die politischen Gefangenen mit Kleidern, Wäsche und ähnlichem zu versehen.
„Daraufhin hat man unzählige Personen verhaftet und versucht nun, einen großen Prozess anzuzetteln wegen des ‚Geheimbundes’ unter dem Namen ‚Das rote Kreuz der Narodnaja Wolja’“, fuhr Kotljarewski fort, wobei er offenbar auf die Gendarmerie anspielte. „Gendarmerie und Staatsanwaltschaft liegen sich nämlich oft in den Haaren und fechten manche Intrige gegeneinander aus. – Eine nette Verschwörung in der Tat, bei der es sich darum handelt. Gefangene mit gebrauchten Kleidern und Wäsche zu versehen! Ich nenne daher diesen Prozess ‚die Affäre der alten Hosen’. Ich habe mich jetzt damit zu befassen und versuche die Geschichte auf administrativem Wege zu erledigen.“ [Eine solche Erledigung könnte für die Beteiligten immerhin noch schlimm genug ausfallen. – „Auf administrativem Wege“ kann nämlich die Gendarmeriebehörde in Russland Leute einkerkern und für viele Jahre in die Verbannung nach Sibirien oder den „entlegenen Gouvernements“ schicken. Anmerkung des Übersetzers.]
* * *
Der Schriftsteller als Zellennachbar
Der Schriftsteller als Zellennachbar
Außer vielen Gefangenen, die in diesen Hosenprozess verwickelt waren, saßen damals im Untersuchungsgefängnis eine Anzahl bekannter Schriftsteller: Protopopoff, Kriwenko, Stanjukiewitsch, Erthel. Der erstgenannte war mein Zellennachbar, und bald „klopften“ wir. Freilich war es nicht ohne Missverständnis abgelaufen. Nachdem ich ihm meinen Namen genannt hatte, hörte er plötzlich auf, mir zu antworten. Ich wusste mir keinen Vers darauf zu machen. Es vergingen dann mehrere Tage; ich hörte ihn auf und ab gehen in der Zelle, vernahm seine Stimme, wenn er mit dem Schließer sprach, aber meine Signale ließ er unbeantwortet. Ich schloss, dass er sich fürchte, abgefasst zu werden, obwohl das Gefängnispersonal hier nicht besonders gegen diesen Brauch einzuschreiten schien, und gab meine Versuche auf. Nach längerer Zeit aber meldete er sich wieder: „Warum verheimlichen Sie mir Ihren Namen?“ fragte er. Ich antwortete sofort, dass ich von Anfang an meinen Namen genannt hätte, und wiederholte ihn nun, worauf er sich eiligst entschuldigte: „Ich habe Sie für einen Spion gehalten, weil ich den Namen nicht entziffern konnte; es schien mir, als hätten Sie absichtlich so undeutlich geklopft, um Ihren Namen zu verbergen.“
Jetzt kamen wir bald ins Gespräch. Wir hatten gemeinsame Freunde und waren daher dem Namen nach einander bekannt. Naturgemäß hatten wir das Bedürfnis, einander auch von Angesicht kennen zu lernen, und griffen zu diesem Zwecke zu folgender List: Aus den Fenstern unserer Zellen, die im fünften Stockwerk lagen, konnte man die „Viehverschläge“ sehen; da wir aber zu gleicher Zeit den „Spaziergang“ machten, so mussten wir nach Übereinkunft jeder einen Tag den Spaziergang aussetzen, und damit der in der Zelle Verbliebene den anderen erkenne, wurde ein Zeichen verabredet. Auf diese Weise lernten wir einander auch äußerlich kennen. Nun sollten wir noch unsere Stimmen gegenseitig hören; auch das wurde erreicht. Wir wussten nämlich, dass in diesem Gefängnis die politischen Gefangenen nicht nur miteinander sprechen, sondern sogar einander kleine Gegenstände durch die Röhren der Wasserklosetts zustecken. Die Leitung war nämlich so eingerichtet, dass je zwei Zellen in allen sechs Stockwerken miteinander verbunden waren; auf diese Weise konnten sich also je zwölf Gefangene miteinander in Verbindung setzen und bildeten einen „Klub“. Wir hatten denn auch bald die Sache ausgetüftelt. Wir ließen gleichzeitig jeder in seiner Zelle das Spülwasser ablaufen; auf diese Weise entstand ein Hohlraum in der Leitung, der wie ein Sprachrohr wirkte; wenn