Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo Deutsch

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Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien - Leo Deutsch gelbe Buchreihe

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      VIII. Neue Befürchtungen

       VIII. Neue Befürchtungen

      Meine Stimmung während der Haft im Petersburger Untersuchungsgefängnis war zweifellos im Allgemeinen besser denn früher. Im Freiburger Kerker war ich in beständiger Aufregung gewesen, sehnte mich nach der Freiheit, die ich zu erreichen hoffte. In der Peter-Pauls-Feste war ich niedergedrückt und verzweifelt; jetzt war mir alles gleichgültig: „Also Zwangsarbeit im sibirischen Bergwerk! Ob es zehn Jahre werden oder fünfzehn, das bleibt sich schließlich gleich“, dachte ich. Die Zukunft war verloren, das Leben hin. Es ist recht schwer, sich mit diesem Gedanken auszusöhnen, besonders wenn man sich körperlich stark und gesund fühlt, aber man fügt sich auch darein.

      Zuweilen allerdings regten sich plötzlich Hoffnung, Träume von unerwartetem Glück in ferner Zukunft; dann jagten wohl die Gedanken in wilder Hast lieblichen Gaukelbildern nach ... Aber ich hatte in Freiburg gar zu bittere Enttäuschungen erlebt und verscheuchte daher jetzt diese lockenden Träume, sobald sie auftauchten. Ich geriet in solchen Augenblicken geradezu in Wut und fluchte den trügerischen, verräterischen Gaukelbildern meiner Phantasie ... „Possen!“ rief ich mir selbst zu; „im Gegenteil, das Schicksal wird dir sicher noch unerwartet einen bösen Streich spielen!“ Ich suchte mich also auf das Schlimmste gefasst zu machen.

       Wochen waren vergangen, seit man mich in das neue Gefängnis gebracht, und während der ganzen Zeit hatte man mich nicht ein einziges Mal verhört; ich wusste gar nicht, wie meine Sache eigentlich stand. „Vielleicht ist man in ‚höheren Kreisen’ abermals anderen Sinnes geworden und sucht nach einem neuen Mittel, um mich als ‚Staatsverbrecher’ zu behandeln“, dachte ich zuweilen, wenn mir das Gespräch mit Kotljarewski einfiel. – „Warum verhört man mich nicht? Warum stellt man mich nicht vor Gericht? Warum schafft man mich nicht nach Odessa? Sicher geht da wieder etwas vor.“

      „Machen Sie sich bereit, man holt Sie!“ sagte mir an einem wunderschönen Julimorgen der Schließer, als ich gerade vom Spaziergange zurückgekehrt war und mich in besonders guter Stimmung befand.

      Eine Lohndroschke erwartete mich an der Tür, und ich stieg mit den Gendarmen ein. Natürlich war von diesen Begleitern nicht zu erfahren, wohin die Fahrt ging. Diese Ungewissheit fiel mir, obgleich sie nicht sehr lang dauerte, schwer, machte mich nervös. Nach einer halben Stunde ungefähr hielt der Wagen in einem Hofe. Ich wurde in eine winzige Zelle, mit einem kleinen Fenster, dessen Scheiben weiß angestrichen waren, geführt.

      * * *

      Der Gendarmerie-Oberst

       Der Gendarmerie-Oberst

      Als ich auf und ab wanderte, bemerkte ich an dem Guckloch an der Tür einen Offizier, der mich unablässig beobachtete.

      „Darf man zu Ihnen?“ fragte er schließlich, zögernd das Guckfensterchen öffnend.

      „Eine sonderbare Frage! Ich bin hier nicht bei mir, sondern bei Ihnen!“

      Die Tür ging auf, und verbindlichst lächelnd trat ein junger Mann in der Uniform eines Gendarmerieobersten ein.

      „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Oberst Iwanoff“; er machte eine Verbeugung und schlug klirrend die bespornten Hacken aneinander.

      „Ich verstehe Sie wirklich nicht! Wollen Sie mir, bitte, sagen, wo ich mich eigentlich befinde? Wozu man mich hergeführt hat?“

      „Hier ist das Büro der Gendarmerieverwaltung; man hat Sie hergebracht, um Sie zu verhören, und wird Sie wohl bald zum Staatsanwalt führen. Ich dagegen möchte nur mit Ihnen plaudern und alte Erinnerungen auffrischen; wir haben viele gemeinsame Bekannte.“

      „Woher kennen Sie mich denn?“ fragte ich verwundert.

      „Aber ich bitte Sie“, rief er lächelnd, „es gibt wohl in ganz Russland kaum einen intelligenten Menschen, der Sie dem Namen nach nicht kennen würde!“

       Der Herr schien sich selbst also der „Intelligenz“ zuzuzählen, jener Schicht der russischen Gesellschaft, die gerade zu jener Zeit in den besten russischen Zeitschriften gegen die reaktionäre Strömung sich verteidigen musste. In Anbetracht der russischen Pressverhältnisse war es sogar üblich, wenn man von den Revolutionären sprach, sie harmlos als „die Intelligenz“ zu bezeichnen.

      „O, wir haben viele gemeinsame Bekannte“, fuhr der Oberst fort. „Ich habe alle Ihre Genossen gekannt: Malinka, Drebjasgin, Maidanski. Ich war früher Gendarmerieadjutant in Odessa und habe sie dort alle kennen gelernt. Das waren wirklich prächtige Menschen!“

      Jetzt begriff ich, warum dieser Herr trotz seiner Jugend bereits Oberst in dem Gendarmeriekorps der Hauptstadt war. Die großen politischen Prozesse gegen Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre boten vielen Gendarmerieoffizieren und Staatsanwälten Gelegenheit, schnell vorwärts zu kommen. Leben und Freiheit der „Staatsverbrecher“ waren der Preis, um die sie Karriere machten. Wahrscheinlich hatte auch dieser Herr keine geringe Rolle bei der Verurteilung meiner Genossen zum Tode und zu Zwangsarbeit gespielt, derselben Menschen, denen er jetzt Lob spendete! Vielleicht war er der Urheber des genialen Gedankens, mit Hilfe des Verräters Kurizin den Opfern Fallen zu stellen. [Kurizin war infolge des Attentates gegen Gorinowitsch verhaftet worden und wurde zum Verräter, was jedoch die übrigen Verhafteten nicht wussten. Man schloss ihn mit den Verhafteten in eine Zelle, damit er sie aushorche. Auf diese Weise hat er einige Leute den Henkern ausgeliefert, andere mussten seinen Verrat mit vielen Jahren Zwangsarbeit in Sibirien büßen. Soviel ich weiß ist er jetzt irgendwo als Tierarzt angestellt.]

      Die Unterhaltung mit dem liebenswürdigen Obersten kam nicht recht in Fluss, und ich war froh, als man mich rief.

      * * *

      Verhör in Bezug auf die Ermordung des Generals Mensenzeff

       Verhör in Bezug auf die Ermordung des Generals Mensenzeff

      Ich wurde in ein komfortabel eingerichtetes Zimmer geführt, wo Staatsanwalt Kotljarewski auf einem Fauteuil vor einem großen Tische saß und in Akten blätterte.

      „Ich habe hier einige Schriftstücke, die sich auf Sie beziehen“, erklärte er mir und begann vorzulesen.

       „Anfangs August 1878“, las er, „hat die Witwe des ermordeten Barons Heyking, Adjutant des Gendarmeriekorps, in der Nähe der Wohnung des Generals Mesenzeff zwei junge Leute bemerkt, die dem General auflauerten ...“ [Mesenzeff, General der Gendarmerie, ist am 17. August 1878 von den Revolutionären auf offener Straße in Petersburg getötet worden.] Einen dieser jungen Leute nun wollte die Baronin in mir wiedererkannt haben. Am nächsten Tage will sie die beiden abermals auf der Lauer gesehen haben, als sie mit ihrem Cousin, dem Baron Berg, spazieren ging. – Dann kam ein Schriftstück, in dem der Baron Berg die Aussagen der Dame bestätigte.

      Es gab eine Zeit – im Jahre 1878 und 1879 –, wo meine Person die Phantasie zahlreicher Menschen aufs lebhafteste beschäftigt haben muss, und viele gaben sich dazu her, mir die Urheberschaft oder die Teilnahme an Vorgängen, die damals an allen Enden Russlands vorkamen, anzudichten. Diese Phantasien fanden den Weg auch in die Presse, und ich selbst war zuweilen erstaunt, wenn ich in den Zeitungen las, was ich alles zuwege gebracht haben sollte;

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