Nesthäkchen und der Weltkrieg. Else Ury
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Читать онлайн книгу Nesthäkchen und der Weltkrieg - Else Ury страница 9
Was wurde dort nicht alles von den fleißigen Mädchenhänden fabriziert. Vor allem graue Strümpfe, denn »barfuß können unsere Soldaten nicht bis Paris und Petersburg marschieren!« scherzte Fräulein Hering. Mit solchen Worten spornte sie die Kinder immer wieder zu neuem Eifer an.
Eigentlich war das aber gar nicht nötig. Denn jedes hatte den Ehrgeiz, möglichst viel für die Vaterlandsverteidiger zu schaffen. Ein edler Wettbewerb begann zwischen den Schülerinnen, wer wohl am schnellsten mit seiner Arbeit fertig wurde. Eine schielte auf den Strumpf der anderen, ob die auch bloß noch nicht weiter war mit Abnehmen, als sie selbst. Die Stricknadeln klapperten unaufhörlich, und die Mundwerke der kleinen Fräulein klapperten fast noch unaufhörlicher – auch hierbei gab es einen edlen Wettstreit.
Es war merkwürdig, mit welcher Freude Doktors Nesthäkchen, das dem Stricken von jeher nicht sehr hold gewesen, hier an ihrem langen Strumpf schaffte. Es schaffte wirklich – Großmama traute manchmal ihren Augen nicht, wie Annemaries Strumpf an dem Stricknachmittage wuchs. Ja, mit den lustigen Altersgenossinnen um die Wette arbeiten, das war ein anderes Ding, als zu Hause allein. Da gab sich Annemarie grenzenlose Mühe, um nicht zurückzubleiben, ob ihr auch oft in den heißen Tagen der Schweiß von der Stirn perlte. Fräulein Hering sollte sie doch loben, und Großmamas Bewunderung des Abends, wenn sie heimkam, tat auch recht wohl. Auch zu Hause ließ Nesthäkchens Fleiß nicht nach, Großmama mußte jetzt sogar noch dagegen steuern, damit das Kind auch zum Spazierengehen kam. Margot, Marianne, Ilse und Marlene sollten durchaus nicht früher mit ihrem Strumpf fertig werden, als sie selbst. Die fünf Freundinnen hatten ihren Platz stets unter dem großen Nußbaum und piepsten da durcheinander wie die Spatzen droben. Jedoch noch etwas viel Schöneres gab es, als das Schwatzen bei der Arbeit. Das war das gemeinsame Singen. Die sangesfrohen Kehlen der Kinder wurden nicht müde. Vaterlands- und Soldatenlieder schallten jetzt zu allen Stunden durch den Garten des Herrn Direktors. Davor mußten die unmusikalischen Sperlinge die Schnäbel halten.
Oben aber über die unmittelbar an den Garten grenzende Eisenbahnbrücke rollte Militärzug auf Militärzug nach Ost und West mit begeistert herunterwinkenden feldgrauen Soldaten. Immer aufs neue stürmisch begrüßt von der fleißigen Mädchenschar.
Was war das jetzt für ein Leben in dem sonst so stillen Garten des Herrn Direktors. Und flatterte gar noch ein Extrablatt mit einer Siegesnachricht herein, dann war des Jubelns kein Ende.
Unvergeßliche Tage, diese herrlichen Augusttage des ersten siegreichen Vordringens der deutschen Truppen, der großen opferfreudigen Begeisterung der Daheimgebliebenen! Jedem der jungen Kinder, die da für das Vaterland schafften, gruben sie sich unauslöschlich für das ganze Leben in die Seele.
Selbst Klaus, der es geradezu als eine Bosheit des Schicksals empfand, daß sein Gymnasium nicht auch zu Lazarettzwecken ausersehen worden und die Ferien dadurch verlängert wurden, söhnte sich allmählich mit seinem Geschick aus. Denn viel wurde in diesen Augusttagen in keiner Schule Deutschlands gelernt. Wenigstens keine Bücherweisheit. Aber anderes lehrten die Lehrer ihre jungen Schüler: Begeisterte Liebe zum Vaterlande, grenzenlose Opferfreudigkeit für die draußen Kämpfenden. Den erhebenden Stolz, ein deutscher Knabe oder ein deutsches Mädchen zu sein, und die gleichzeitig daraus erwachsende Pflicht, trotz der Jugend seinen Platz in dieser schweren Zeit voll auszufüllen
Was war es da bloß, daß Doktors Nesthäkchen, eine der begeistertsten in diesen Augusttagen, oft des Abends ihr Kopfkissen vor dem Einschlafen mit Tränen netzte? War doch am Tage die lustigste und ausgelassenste von all ihren Freundinnen, sang und sprang durchs Haus wie ein Wiesel, so daß kein Mensch merkte, daß irgend etwas die Kinderseele bedrückte.
Nein, keiner ahnte etwas von Nesthäkchens Kummer. Nur der Mond, Annemaries alter, guter Freund, der Jahr für Jahr allabendlich ihr im Bett durch die Kinderstubenfenster liebkosend mit seinen Silberfingern die Wangen streichelte, wußte Bescheid.
Nesthäkchen bangte sich nach dem Gutenachtkuß ihrer Mutti!
In den ersten Tagen nach ihrem Heimkommen hatte es Annemarie gar nicht so arg empfunden, daß die Mutter nicht da war. Die Kriegsbegeisterung, von der alle gepackt wurden, war stärker als jedes sonstige Gefühl, ließ kaum ein anderes daneben aufkommen. Da war das Wiedersehen mit Vater und zugleich der baldige Abschied von ihm. Die Brüder waren Annemarie wieder neu, und vor allem war Großmama zu ihnen gezogen, an der die Kleine voll Liebe hing. Und Mutti mußte ja jeden Tag wiederkommen. sie hatte sich gewiß nur verspätet, so hoffte ihr Nesthäkchen von Tag zu Tag. Aber Tag für Tag verging, und keine Mutti kam zurück.
Annemarie, die das Jahr über im Kinderheim kaum Sehnsucht nach Hause empfunden, begann sich jetzt daheim nach der Mutter zu bangen. Am Tage nicht, da stürmte zu viel Neues auf sie ein. Da wurden ihre Gedanken anderweitig in Anspruch genommen. Nur des Abends fehlte ihr die Mutti. Zwar kam Großmama getreulich an ihr Bett und küßte das Enkelchen zärtlich. Aber die sagte: »Gute Nacht, mein Liebling«, oder auch »mein Herzchen«. Mutti aber pflegte ebenso wie Vater »meine Lotte« zu ihr zu sagen. Wie sehnte sich Nesthäkchen nach diesen beiden Worten, dem Kosenamen aus ihrer Kleinkinderzeit. Denn wenn Vater auch in seinen Karten an die Großmama »seine Lotte« grüßen ließ, das war doch ganz anders, als wenn Mutti sie dabei in ihre Arme nahm.
Mutti gab gar keine Nachricht. Nicht eine Zeile kam von ihr, so oft Annemarie auch schon an sie geschrieben hatte. Ja. hatte die Mutter sie in England bei den Feinden denn ganz vergessen?
Zuerst hatte Annemarie die Großmama gefragt und bestürmt. warum Mutti denn gar nichts mehr von ihnen wissen wollte. Aber als sie merkte, daß Großmama jedesmal dadurch traurig wurde, ja, daß sie sogar Tränen in den Augen hatte, fragte Nesthäkchen nicht mehr. Denn es wollte die gute Großmama nicht betrüben.
Dafür wandte sich Annemarie aber um so angelegentlicher an die Brüder. Hans, der Große, beruhigte das kleine Mädchen. Vielleicht blieben alle Briefe an der Grenze liegen und wurden überhaupt nicht in das feindliche Land hineingelassen. Das war eine sehr verständige Auskunft des Obersekundaners.
Klaus aber, in dessen Kopf der Krieg sämtliche Räubergeschichten. die er jemals gelesen, wieder aufgewirbelt hatte, wirkte weniger beruhigend auf das Schwesterchen.
»Paß auf, Annemie, Mutti ist bestimmt von unsern Feinden gefangen genommen worden. Am Ende haben die Engländer sie in ein finsteres Schloßverlies gesperrt, wo sie nicht mal Wasser und Brot kriegt. Aber wenn ich groß bin, Annemarie, dann reise ich nach England und befreie Mutti. Dann wirst du sie gar nicht mehr wiedererkennen, denn sie hat bestimmt weiße Haare vor Gram bekommen.«
Nesthäkchen machte entsetzte Augen. Hans aber lachte: »Schwindele doch der Kleinen nichts vor. Junge! Mutter ist sicherlich bei Onkel und Tante auf ihrem Landsitz und läßt sich das englische Roastbeef da schmecken.«
»Und wenn sie nicht mal Wasser und Brot in ihrem Felsverlies bekäme, dann wäre sie ja längst verhungert, bis du groß bist, Klaus«, fiel Annemarie ein.
Aber die Schauermär von Klaus hatte doch Eindruck auf die Kleine gemacht. Beim Abendbrot legte sie plötzlich die Gabel hin. Der Happen würgte sie im Halse. Trotzdem es ihr Leibgericht gab, Kartoffelpuffer mit Kompott.
»Herzchen, fehlt dir was?« forschte Großmama sofort ängstlich.
»Nee – nee – ich kann bloß nicht mehr essen«, Nesthäkchen begann plötzlich grundlos zu weinen.
Das war bei dem lustigen Ding fast ebenso merkwürdig wie die Appetitlosigkeit. Mit Recht machte sich Großmama Gedanken. Sie forschte und drang in das Kind, bekam