Die freudlose Gasse. Hugo Bettauer
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Verlegen wehrte der Rechtsanwalt ab:
"Lia ist in der Oper, bei ‚Tosca‘, und hat mir versprochen, schon nach dem zweiten Akt fortzugehen. Es wäre doch peinlich, wenn ihr Platz an der Tafel leer bliebe und sie dann inmitten des Soupers hereinkäme."
Egon Stirner lachte hell auf.
"Peinlich! Einem Mann wäre das peinlich! Aber einer schönen, jungen Frau? Für die ist es ein geradezu herrliches Gefühl, einen vollen Saal zu betreten und alle Augen auf sich gerichtet zu wissen."
"Nicht übel beobachtet," meinte Deme], "Sie sind entschieden Frauenkenner, Herr Stirner. Wie ich deine schöne Frau kenne, wird es ihr wirklich ein Hochgenuß sein, allein in ihrer ganzen imponierenden Lieblichkeit in den Speisesaal zu rauschen."
Leid lächelte geschmeichelt, aber es zuckte dabei um seine Mundwinkel. Hatte denn irgend jemand, sein bester Freund, Otto Demel, mit eingeschlossen, eine Ahnung, wie er Lia liebte und –wie er um sie bangte? Wußte jemand etwas von den Qualen, die er litt, wenn er fühlte, wie sich Lia innerlich immer mehr von ihm entfernte, in seinen Armen kalt wie Eis blieb, sich in seiner Gesellschaft langweilte, müde und verdrossen war, wenn aber andere Männer kamen, ihr Temperament lichterloh aufflammen ließ?
Ein sanft abgetönter Gongschlag rief die Gäste aus den zwanzig oder mehr Zimmern in den Speisesaal, in dem zwei lange Tafeln schneeweiß unter Gold, Silber, Blumen und Kristallglas schimmerten.
Doktor Leid überzeugte sich, daß seine Frau noch immer nicht da war. Er eilte zur Hausfrau, um eine Entschuldigung vorzubringen.
"Jammerschad," klagte Frau Sabine Rosenow, "jammerschad, das Essen wird ihr kalt werden." Sie war in diesem Augenblick eben nicht die Milliardärsgattin, sondern die brave Hausfrau aus Bielitz, die bei dem Gedanken zitterte, daß Jonas, ihr Gatte, oder Regi, das Töchterl, eine kalte Suppe bekommen könnte. Gräfin Stuppach, der ob dieser Bemerkung sich die grauen Haare sträubten, rettete die Situation. Sie lächelte verbindlich und sagte:
"Frau Generaldirektor beliebt natürlich nur zu scherzen. Herr Doktor, Ihre Frau Gemahlin ist willkommen, wann immer sie auch erscheinen wird. Selbstverständlich wird für verspätete Gäste nachserviert."
Das kleine Streichorchester, das auf der Galerie des mächtigen, im altenglischen Stil gehaltenen Speisesaales untergebracht war, begann zu spielen, lautlos, auf Gummisohlen einherhuschend, trugen die Diener die köstlichen Speisen auf, weniger lautlos schmatzten, schlürften, unterhielten sich die Gäste. Rubinroter, grünlichgelber, goldgelber Wein funkelte in den Gläsern.
Doktor Leid bemühte sich vergeblich, seine Tischnachbarin zu unterhalten. Gesprächsstoff wäre genug vorhanden gewesen, da er innerhalb weniger Jahre dreimal ihre schmerzlose Scheidung erwirkt hatte. Aber er war zerstreut, immer flog sein Blick nach dem leeren Platz hinüber, der für seine Frau bestimmt war, und seine Gedanken gingen zurück auf die Zeit, da er sich in Lia verliebt hatte.
Er vierzig, sie zwanzig. Er, der vielbeschäftigte Anwalt mit einem für diesen Beruf exorbitant hohen Einkommen, sie ein armes Tippmädel, aus kleinem jüdischen Haus, das eben durch Protektion in seiner Kanzlei untergekommen war.
Dr. Leid pflegte nur mit seinen zahlreichen Konzipienten zu verkehren, dem weiblichen Personal schenkte er kaum einen Blick, wenn er durch die Schreibzimmer ging. Aber einmal traf es sich, daß er nach Kanzleischluß zurückkehrte, um noch einen vergessenen Brief zu diktieren. Es war niemand mehr anwesend, als das neue Fräulein, Lia Holzer, die sich eben auch zum Fortgehen anschickte. Dr. Leid diktierte ihr den Brief direkt in die Maschine, und da er nicht wollte, daß die Reinemachefrauen zuhören, beugte er sich zu ihr hinab. Sog das Aroma des jungen schönen Mädchens ein, sah die schwellenden Formen der mädchenhaften Büste, wurde verwirrt, atmete schwer, vergaß weiter zu diktieren. Und wie sie sich aufrichtete, um ihn fragend anzublicken, berührte die atlasweiche Haut ihrer Wange sein Gesicht, versenkte sich sein Blick in ihre großen, feuchten Augen, in denen das Temperament eines jungen, leidenschaftlichen Weibes mühsam verhalten glühte.
Innerhalb weniger Tage ging die Saat dieses unbedeutenden Geschehnisses auf. Bevor ein Monat um war, schied Lia Holzer wieder aus der Anwaltskanzlei, aber nicht als Entlassene, sondern als Braut ihres Chefs. Bald fand die Hochzeit statt und es kamen Wochen, während der sich Dr. Leid wieder als Jüngling fühlte und dachte, daß das größte Glück der Welt ihm zu eigen geworden sei. Bedenken über den großen Altersunterschied verscheuchte er mit triftigen Argumenten. Sein Lebensernst, seine restlose Liebe zu Lia, nicht zuletzt sein Reichtum würden ausgleichend wirken. Und dann – Lia würde ihm Kinder schenken und als Mutter unlöslich mit ihm verknüpft sein.
Aber Lia bekam kein Kind, wollte keines bekommen. Stürzte sich in den Strudel des gesellschaftlichen Lebens, tanzte nachmittags im Trocadero, im Bristol-Grillroom, im Tabarin, während er in der Kanzlei arbeitete, schmollte, wenn er spät abends todmüde nicht mehr in Gesellschaft gehen wollte, gähnte, wenn er ihr von seinen beruflichen Erlebnissen erzählte, ließ die guten Bücher, die er ihr brachte, ungelesen umherliegen, hatte nur Toiletten, Nachmittagstees, Autofahrten, Theater und Bälle in ihrem schönen Köpfchen. Ob sie ihn auch betrog? Unwillig, empört über diesen Gedanken, zuckte Leid empor. Lächerlich! Sie flirtete, wie es alle Frauen tun, kokettierte mehr sogar als andere, aber ihn betrügen? Nein, daran zu glauben hatte er wahrhaft keine Ursache. Neuerdings befand sich dieser ihm wenig sympathische Egon Stirner oft in ihrer Gesellschaft, und erst gestern war es ihm abends im Imperial, wo sie gemeinsam zu Dritt gespeist hatten, gewesen, als würde zwischen den beiden ein bedeutsamer Blick ausgetauscht werden. Aber nein, ein Flirt und nichts weiter! Und vom Flirt zum Ehebruch war ein weiter Weg, den seine Lia nie beschreiten würde.
Wo sie nur blieb? Nun könnte sie schon hier sein, auch wenn sie bis zum Schluß der Vorstellung geblieben wäre. Seine Nachbarin tröstete ihn: "Bitt‘ Sie, die Jeritza wird sich zwanzigmal nach jedem Aktschluß verneigen müssen. Sicher dauert die Vorstellung bis nach zehn Uhr."
Die erste Tischrede wurde gehalten. Ein ehemaliger Minister, jetzt Verwaltungsrat bei der Mitteleuropäischen Kreditbank, sagte monoton und stammelnd sein Sprüchlein auf, verglich Jonas Rosenow mit einem aufgehenden Stern und seine Gattin mit einem Veilchen, das gern im Verborgenen blüht, aber um so intensiver duftet. Worauf der Journalist furchtbare Gesichter schnitt, um nicht herausplatzen zu müssen.
Der Hausherr, schwitzend vor Aufregung, erwiderte. Als er sagte, er wisse die Ehre zu schätzen, so illustre Gäste an seiner fürstlichen Tafel versammelt zu sehen, fiel Gräfin Stuppach beinahe in Ohnmacht. Demel konnte sich nicht mehr zurückhalten und lachte hellauf und sogar Dr. Leid vergaß seine trüben Gedanken und lächelte dem Freund, der ihm gegenüber saß und der Tischherr seiner Frau hätte sein sollen, vergnügt zu.
Dann aber packte ihn wieder seine Nervosität. Es war halb elf Uhr und Lia noch immer nicht hier. Das ging nicht mit rechten Dingen zu, es mußte etwas geschehen sein. Vielleicht war sie unpäßlich geworden, vielleicht ein Brand im Opernhaus ausgebrochen. Erinnerungen an den Ringtheaterbrand, von dem seine Eltern ihm so oft erzählt, tauchten auf. Er konnte sich nicht länger beherrschen, sprang auf und verließ, eine Entschuldigung gegen seine Tischdame vor sich hinmurmelnd, den Speisesaal, und zum Telephon zu eilen und seine Wohnung anzurufen.
Nein, die gnädige Frau sei nicht zu Hause. Sie sei doch in großer Toilette, dem neuen goldgestickten schwarzseidenen Kleid, nach der Oper gefahren, um sich von dort direkt nach Pötzleinsdorf zu begeben. Leid läutete ungeduldig ab. Die Schweißtropfen standen ihm auf der hohen klugen Stirne, als er in den Speisesaal zurückkehrte. Und nun begann sich seine Unruhe den übrigen Gästen mitzuteilen. Von allen Seiten wurde er gefragt, wo denn seine Frau bleibe. Einige Herren zischelten einander frivole Witze zu, Frauen lächelten mehr mokant als teilnahmsvoll. Otto Demel aber wurde von aufrichtiger Besorgnis