Die freudlose Gasse. Hugo Bettauer
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Das andere, das kleine Häuschen, bietet, wenn man den Toreingang passiert hat, Überraschungen. Man kommt in einen großen, rechteckigen Hof mit einem alten, nicht mehr in Betrieb befindlichen Ziehbrunnen und einem Kastanienbaum. Links und rechts ist der Hof von Türen und Fenstern flankiert, die in kleine, aber nicht unbehaglich erscheinende Wohnungen führen. Und verläßt man den Hof nach rückwärts durch ein zweites Tor, so kommt man wieder in einen Hof, und von diesem in einen dritten. Überall Wohnungen, Werkstätten, Ställe, feuchte Wäsche zum Trocknen aufgehängt, Geranien und Levkojen in zerbrochenen Töpfen vor den Fenstern, Lärm, Hämmern, Musik aus heiseren Grammophonen, Kinderweinen, Zanken, mitunter ein gellender Aufschrei, das Dröhnen dumpfer Schläge, rauhes Lachen, ein sentimentales Lied mit obszönem Kehrreim.
Eine kleine Stadt für sich, ein ganzes Viertel der Armut und sozialen Zurückgebliebenheit.
Das vierstöckige Haus mit den erbärmlichen Wohnungen trägt die Nummer 54, das kleine mit den vielen Höfen 56 und neben diesem liegt das Haus Nummer 58, das wieder einen anderen Typus repräsentiert. Es stammt aus den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, einer Zeit also, da noch recht solid gebaut wurde, die Zimmer groß, hoch, die Küchen geräumig, die Kachelöfen breit und behaglich waren. So dick und massiv waren damals die Mauern, daß diese Häuser die Entwicklung der Gasbeleuchtung nicht hatten mitmachen können, da es kaum möglich gewesen wäre, die Rohre einzuziehen. Erst kurz vor dem Krieg hatte der Hausherr, der einer alten Wiener Familie angehörte und ein wenig Herz für seine Parteien besaß, elektrisches Licht einführen lassen.
Jedes der drei Stockwerke beherbergte nur drei Wohnungen mit je drei Zimmern, von denen eines sehr groß war, einer geräumigen Küche mit einer anstoßenden Kammer für das Dienstmädchen, einer in das Vorzimmer einmündenden Speisekammer und einem unverhältnismäßig großen Toiletteraum. Die Namen auf den Türschildern bewiesen, daß die neue Zeit hier noch nicht ihren Einzug gehalten hatte. Ein Generalmajor a. D., ein Hofrat aus dem Verkehrsministerium, ein pensionierter Sektionsrat, ein Privatgelehrter und ein aktiver Universitätsprofessor – das waren die ersichtlich soliden Bewohner eines Hauses, das bescheidenen Wohlstand auszuatmen schien. Die bittere Armut, die hinter den starken Mauern herrschte, die hoffnungslose Verzweiflung über eine Zeitentwicklung, der man nicht gewachsen war, kannte nur der Eingeweihte, in erster Linie der alte Hausmeister und dessen redselige brave Frau, die beide mit Schrecken miterlebt hatten, wie ihre "Herrschaften" in einem Zeitraum von nicht einmal zehn Jahren in abgrundtiefes Elend geraten waren. Und immer wenn der Althändler wieder aus irgendeiner Wohnung einen Perserteppich, eine köstliche Biedermeiergarnitur, eine seltsame Standuhr, ein Gemälde oder gar eine Kiste mit Büchern fortschleppte, seufzte der Hausmeister tief auf, stieß den braunen Daumen in den Pfeifenkopf und sagte zu seiner Frau:
"Du, Alte, der Hunger geht um im Haus."
Im letzten, dem dritten Stockwerk, betrat abends ein junges schlankes Mädchen die Wohnung, deren Türschild den Namen Alois von Rumfort, k. k. Regierungsrat, trug. Das "von" war allerdings durchgestrichen, ebenso das "k. k." und dem Regierungsrat war mit Tinte ein a, D. hinzugefügt. Aber auch das stimmte nicht, denn der Regierungsrat Alois Rumfort war schon vor einem Jahre gestorben.
Es war ein abscheulicher, naßkalter Herbsttag, die weichen, großen Schneeflocken verwandelten sich, bevor sie noch den Erdboden erreichen konnten, in Wasser, und das junge Mädchen triefte von Nässe. Obwohl es sich die Schuhe auf dem zerrissenen Fußteppich vor der Wohnungstüre abgestreift hatte, verbreitete es im Vorzimmer und dann im Wohnzimmer, in dem sämtliche Familienmitglieder versammelt waren, feuchte Flecken auf dem Fußboden.
Vier Augenpaare wandten sich erwartungsvoll, gespannt dem jungen Mädchen zu als es mit einem müden, leisen "Guten Abend" das Zimmer betrat. Am ungeheizten Ofen lehnte ein alter, großer Herr mit schlohweißem Haar, buschigen Augenbrauen und roten Backen, bei dem runden Tisch saß eine blasse Frau in mittleren Jahren mit vergrämten Zügen und leicht geröteten Augen über eine Flickarbeit gebeugt, während ein Knabe von elf Jahren und ein Mädchen von dreizehn Jahren mit Schulaufgaben beschäftigt waren. Und diese vier Personen sahen bange auf, als Grete das Zimmer betrat.
Grete kam den Fragen voraus. Während sie die nasse, schwarze Jacke und den ärmlichen, zerdrückten, von Wasser triefenden Hut ablegte, sagte sie lächelnd:
"Gott sei Dank, ich habe eine Monatsgage als Vorschuß bekommen. Sechshunderttausend, sie werden mir in Raten von hunderttausend monatlich abgezogen." Und mit einem Seufzer: "Leicht war es nicht! Ein gemeiner Mensch ist der Herr Wöß!"
Aus einem abgerissenen schwarzen Ledertascherl zog Grete die sechs Banknoten, legte vier von ihnen auf den Tisch und sagte zögernd:
"Ich werde jetzt was Ordentliches zum Nachtmahl einkaufen und auch Brennholz mitbringen, man friert sich ja hier im Zimmer die Seele aus dem Leib. Zur Frau Greifer nebenan werde ich auch gehen und ihr die Fünfzigtausend geben, die ich ihr noch schuldig bin."
Frau Rumfort war aufgestanden, streichelte der Tochter die blassen Wangen, wischte sich Tränen aus den Augen und flüsterte weinerlich:
"Mein armes Kind, alles lastet auf dir! Wenn der arme Papa noch leben würde, wäre es anders. Bring‘ recht viel Brot, Gretl, die Kinder haben so viel Hunger. Hat der Herr Wöß sich lange gespreizt, bevor er den Vorschuß bewilligt hat?"
"Frag‘ nicht, Mama! Ich will lieber gar nicht daran denken, das alles ist ja so ekelhaft. – – Also, ich werde gleich drei Laib Brot bringen." Auch der alte Herr war auf sie zugegangen.
"Grete," sagte er in dröhnendem Baß, "es wird nicht lange dauern und alle Not hat ein Ende. Wenn die Monarchie erst wieder hergestellt sein und Kaiser Otto, umgeben von den Erzherzoginnen und Erzherzogen, seinen Einzug in Wien halten wird, dann werde ich vor den kaiserlichen Knaben hintreten und ihm sagen: Majestät, hier steht vor Ihnen ein Greis, ein ehemaliger General, der für Kaiser und Reich bei Custoza und Königgrätz gekämpft und geblutet hat. – –"
"Schon recht, Großpapa, aber bis dahin hat es noch seine guten Wege und bevor wir die Monarchie wieder haben, können wir alle zusammen verhungert sein."
Der alte Herr Rumfort, der es nur bis zum Oberst gebracht hatte, als Generalmajor in Pension gegangen war, aber keinerlei Ruhegenüsse bezog, weil er sie vor vielen Jahren Gläubigern bis zum Lebensende hatte verpfänden müssen, ging in das Schlafzimmer, das er mit dem Knaben bewohnte, um in Erwartung eines außergewöhnlichen Abendessens den zerfetzten Schlafrock mit einem uralten wattierten Offiziersmantel zu vertauschen. Frau Rumfort versuchte mit ein paar restlichen Holzspänen und viel Papier ein Feuer im Küchenherd zu entfachen, um das Wasser für die Würstel, die Grete mitbringen wollte, zum Sieden zu bringen; die beiden Kinder blieben allein im Wohnzimmer zurück.
Else, ein überschlankes, immer hüstelndes Mädchen mit großen, wissenden Augen, stieß den kleineren Bruder an.
"Du, Erich, ich weiß schon, warum die Grete nicht hat sagen wollen, ob ihr ihr Chef, der Herr Wöß, gerne das Geld gegeben hat. Sicher war er zudringlich und hat sie küssen wollen. Weißt du, im Vierundfünfziger-Haus, da wohnt so ein Kerl, ein Slowak ist er, glaub‘ ich, der lauert mir immer auf und schenkt mir Schokolade.