Die freudlose Gasse. Hugo Bettauer
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Erich nickte. "Ich werd‘ schon nichts verraten, aber vielleicht ist‘s besser, wenn du‘s zuerst der Grete sagst!"
"Dummer Bub, sie tät es mir ja doch verbieten! Na, ich werde es mir noch überlegen! Wenn der Slowak nicht so grauslich wär‘ – beim Sohn vom Hofrat in unserem Hause, weißt, der hübsche, junge Student, bei dem wär‘s schon was anderes. Aber der schaut mich gar nicht an."
Während so das dreizehnjährige Mädchen ihre noch kindhaften und doch im Unterbewußtsein lasterhaften Gedanken entwickelte, besorgte Grete die Einkäufe. Zweieinhalb Paar Würstel, fünf Kilo Kartoffel, drei Laib Brot, Margarine, ein halbes Kilo Zucker, dann, als besonderen Leckerbissen, der ordentlich sättigen sollte, zwanzig Deka Käse, noch ein paar Kleinigkeiten, und hunderttausend Kronen waren weg. Im benachbarten Kohlenkeller kaufte das Mädchen, dessen Wangen jetzt vor Eifer gerötet waren, Brennmaterial, das sofort zugestellt werden sollte, und dann begab es sich in das Haus Nummer 56 mit den vielen Höfen, um die Schneiderin, Frau Greifer, aufzusuchen, der sie für allerlei kleine Arbeiten fünfzigtausend Kronen schuldete.
Grete schüttelte sich, Brrr, wie widerwärtig war dieser Herr Wöß, ihr Chef, gewesen. Herr Wöß besaß ein sogenanntes Realitätengeschäft und Grete war in seinem Bureau als Stenotypistin angestellt. Mit dem Hungergehalt von sechshunderttausend Kronen im Monat. Wofür sie nicht nur acht Stunden im Tag arbeiten, sondern sich auch noch die zärtlichen Annäherungen des Herrn Wöß gefallen lassen mußte. Herr Wöß, der es auf seltsamen Wegen mit mehrfachen Ruhepunkten im Landesgericht vom Markthelfer zum reichen Mann gebracht hatte, trug ein Ohrringel, war zaundürr, in dem finnigen Gesicht thronte eine rote Trinkernase und dem breiten, gemeinen Mund mit den goldenen Zähnen entströmte ein furchtbarer Gestank, der, wenn sich Herr Wöß dicht neben Grete stellte, sie zur Verzweiflung trieb. Und er stand fast immer neben ihr, versuchte immer wieder den schlanken, schönen Mädchenleib mit seinen breiten, platten, ungepflegten Fingern zu betasten, lachte nur zynisch und kichernd auf, wenn das Mädchen ihn mit dem Ellbogen von sich stieß.
Heute hatte Grete zu ihm in sein "Privatkontor" gehen und ihn um Vorschuß bitten müssen. Worauf Herr Wöß sie mit einem Ruck auf seine Knie gezogen, ihr einen Kuß auf die Wange gedrückt und erklärt hatte, er würde ihr das Gehalt aufbessern und eine Million Vorschuß geben, wenn sie nett zu ihm sein wollte.
"Sein S‘ nicht dumm, Fräulein Gretl," hatte er keuchend gesagt, "ob ich der Erste bin oder ein anderer, ist doch ganz egal, und wenn Sie mein Schatzerl sein wer‘n, dann können S‘ in Samt und Seide gehen und haben ausgesorgt."
Mehr angeekelt als entrüstet hatte sich Grete freigemacht und den Mut aufgebracht, ihm zu sagen, sie müsse sofort den Posten verlassen, wenn er ihr nicht ohne solche abscheuliche Bedingungen den Vorschuß geben würde. Worauf sie wirklich das Geld bekam. Grinsend hatte ihr Wöß die Banknoten hergezählt.
"Sie kommen schon noch in meine Gassen! Nur daß ich dann nicht mehr der Erste sein werd‘. Wird dann halt billiger sein, das Vergnügen!"
Grete betrat nun das Haus Nummer 56 und mußte zwei Höfe queren, bevor sie in den Hof Nummer 3 kam, dessen linke langgestreckte Flanke Frau Greifer als Schneideratelier bewohnte.
"Wenn Papa noch leben würde!" Wie ein Refrain gingen ihr die ewig wiederkehrenden Worte ihrer Mutter durch den Kopf. Ja, wenn Papa noch leben würde, dann wäre wohl alles anders. Aber Papa hatte sie verlassen, war feige desertiert – –
Regierungsrat Rumfort hatte sich vor anderthalb Jahren gegen einmalige Abfindung freiwillig abbauen lassen. Und, der Mode des Tages folgend, die Millionen sofort zu einem Bankier getragen, um sie an der Börse zu verdoppeln, verdreifachen, Milliardär zu werden. Ein paar Monate war auch alles wunderbar gegangen, man hatte in Saus und Braus gelebt, bis eines Tages, nach einem kleinen Börsenkrach, Herr Rumfort kein Geld, keine Effekten, keine Stellung und keine Pension besaß. Und in einem Anfall von Verzweiflung sich eine Kugel durch den Kopf jagte.
Grete schauderte zusammen. Von diesem Tag an war das Elend über sie alle hereingebrochen. Schon für das Leichenbegängnis mußten Schmucksachen verkauft werden, sie konnte nicht länger das Gymnasium besuchen, mußte rasch einen Handelskurs absolvieren, dann begann die Jagd um einen Posten, bis sie bei Herrn Wöß unterkam. Und nun lebten fünf Menschen von ihrem elenden Gehalt und von dem Erlös der schönen Möbel, Teppiche, Vasen, Nippessachen, die die Wohnung so traulich und lieb gemacht hatten.
Jetzt aber, seit dem Herbst, ging es überhaupt nicht mehr, begann der Hunger ständiger Gast zu sein, lag die Zukunft dunkel, drohend, gespensterhaft vor Grete, die mit ihren siebzehn Jahren Familienerhalter und der einzige klare Kopf im Hause war.
Die gute Frau Greifer.
Als Grete den dunklen, niedrigen Hausflur betrat, von dem aus eine Türe zu Frau Greifer führte, kamen ihr zwei junge, elegant gekleidete, grell geschminkte Mädchen entgegen, die sich von der Schneiderin eben verabschiedet hatten. Frau Greifer rief ihnen noch nach, sie mögen ja vor zehn Uhr kommen, dann erblickte sie Grete und ließ sie eintreten. Das Zimmer, das man vom Korridor betrat, entsprach ganz den Vorstellungen von einer vorstädtischen Schneiderwerkstätte. Ein großer gehobelter Tisch, zwei Nähmaschinen, eine wackelige Kleiderpuppe, Schnittmuster und Modejournale auf dem Tisch und einer Stellage.
Frau Greifers dicker, kurzer Leib quoll fast aus dem geblümten Schlafrock heraus, das rosige, verfettete Gesicht der etwa vierzigjährigen Frau schien aus vier Etagen zu bestehen, die von der niedrigen Stirne, der Partie bis zum Mund, in der eine winzige Nase wie ein Korkpfropfen saß, dem runden Kinn und dem wabbeligen Doppelkinn bestanden. Die fleischigen, kurzen Finger waren mit Ringen bedeckt, die grauen, im Fett versunkenen Augen flackerten scharf und unruhig hin und her, im ersten Augenblick konnte man Frau Greifer für ein harmloses, molliges Wiener Weiberl halten, bei näherer Betrachtung schwand dieser günstige Eindruck, verbreitete die kugelrunde Dame eine Atmosphäre von Gemeinheit und dunkler Vergangenheit.
Man munkelte in dem Haus mit den drei Höfen und der Nachbarschaft allerlei über Frau Greifer, erzählte von nächtlichen Gelagen, bei denen es hoch hergehen sollte, wußte aber nichts Genaues. Konnte auch nichts wissen, da die Chronik der Wiener Häuser, die Hausmeistersleute, nichts berichtete. Ob es wahr war, daß der Hausbesorger und seine Frau für ihre Diskretion ganz erhebliche Summen erhielten, ließ sich nicht kontrollieren. Sehr zustatten mußte der Frau Greifer die Lage ihrer Wohnung kommen.
Es war die einzige Wohnung im dritten Hof, ihr gegenüber lag nur eine elektrotechnische Werkstatt, die abends um fünf Uhr geschlossen wurde. Und außerdem führte das letzte der sechs Zimmer, aus denen die Wohnung bestand, in einen kleinen Laden, der tagsüber von einem wenig in Anspruch genommenen Dienstvermittlungsbureau okkupiert war. Daß die Inhaberin dieses Vermittlungsbureaus, ein kleines, buckliges Frauenzimmer, die Nichte der Greifer war und bei ihr wohnte, konnte man als besonders günstigen Umstand bewerten. Der Laden ging aber nicht in die Melchiorgasse hinaus, sondern führte in ein die Melchiorgasse schneidendes Sackgäßchen, und sein Gegenüber bildete eine Feuermauer. Die Situation gestaltete sich also dermaßen, daß man die umfangreiche Wohnung der Schneiderin sowohl vom Hof 3 des Hauses Melchiorgasse 56, als auch von dem kleinen Laden in dem Quergäßchen betreten konnte.
Frau Greifer begrüßte Grete Rumfort überaus herzlich.
"Jessas, Fräulein von Rumfort, daß Sie sich auch einmal wieder blicken lassen!" Und mit einem schätzenden, entkleidenden Kennerblick:
"Schön sind Sie geworden, Fräulein, ordentlich eine Bohthö! Das feine Gesichterl und die