Die vorgespielte Gerechtigkeit. Arber Shabanaj
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Bei diesem Besuch fühlte sich Agron Iravosok plötzlich jung und stark und nicht wie ein Mann von 50 Jahren. Oh Gott, er wird ein Zuhause bekommen! Er hatte den Eindruck, dass Worte, die fielen, und Zeichen, die zwischen den Teilnehmern der Flüchtlingskommission ausgetauscht wurden, ihn hoffen lassen könnten, dass alles gut werde.
Doch gleichzeitig überkamen ihn auch Ängste, es könnte jemand wie aus dem Nichts auftauchen und ihm wieder Steine in den Weg legen.
Er schwankte zwischen Hoffen und Bangen, mal fühlte er sich jung, dann fühlte er sich alt. „Eh, wie der Mensch ist“, dachte er, „mal Löwe, mal Hase“.
Und recht hatte er, es wurde von allen Seiten viel gesprochen, es gab nichts, über das nicht geredet wurde. Für ein Apartment, mit einem Raum und einer Küche ausgestattet, würde er sehr viel Geld ausgeben müssen, mit zwei Räumen und einer Küche noch mehr. Doch, was sollte er geben, das Ungeziefer aus dem Keller?
Er hatte weder das Recht noch die Mittel, seinen einzigen Verwandten in knapp zwanzig Kilometern Entfernung mal zu besuchen, weil dafür regelmäßig eine Besuchserlaubnis nötig war, um den Landkreis verlassen zu dürfen! Seit sechzehn Jahren lebte er in Deutschland, und seine Jahre schmolzen dahin. Er, auch mit dem Potenzial, fehlerfreies Deutsch und Englisch zu artikulieren, hatte bis heute noch keinen Aufenthaltstitel.
Der frühere Bürgermeister war nicht gut gewesen, sein Nachfolger nicht besser.
Agron Iravosok hatte Jahre hinter sich, in denen er gehofft hatte, man kümmere sich um eine Wohnung für ihn und seine Familie. Jahre, in denen Versprechungen gemacht worden waren, ihm ein Apartment mit einem separaten Eingang zu gewähren. Jahre, während sie mit ihm und seiner Familie Katz und Maus gespielt hatten. Geschehen aber war nichts.
Und während die Zeit verging, spürte er, wie auch seine Tochter, eine junge aufstrebende Frau auf der Suche nach Verantwortung und Glück, keine Chance ihr Leben selbstständig zu gestalten hatte und sich mit der Situation abfinden musste.
„Blumen verblühen, Menschen sterben“, dachte Agron bei sich und zitterte. Er spürte den Schmerz darüber in seinem Herzen, auch jetzt, als er sich daran erinnerte.
Nun saß er zusammen mit seiner erkrankten Frau auf den Stühlen des Rathauses, wartete und musste die endlosen Beleidigungen des Stadtmenschen mit anhören. Dabei war er geschockt, was einem normalen Bürger dieses Landes gewährt wird - demjenigen, der der deutschen Sprache nicht einmal ausreichend mächtig ist, demjenigen, der mehr besoffen als nüchtern vorzufinden ist, demjenigen, der es wagt, den Bürgermeister persönlich zu beleidigen.
Aber er, Agron Iravosok, der seine gesamte Wut bisher innerlich festgehalten und allen Grund zum Abladen der ganzen Last gehabt hätte, blieb stets ruhig und schwieg. Er war sein Leben lang ein fleißiger Arbeiter gewesen, lebte schon sechzehn Jahre in dem Raum isoliert, während andere neue Wohnungen bekamen und sich breitmachen durften und sogar separate Kinderzimmer und wer weiß was noch alles hatten.
Er selbst hatte noch nie jemanden beleidigt, mit dem Staat geriet er nie in Konfrontation: Sechzehn Jahre Asylbewerber, er und seine Familie waren nicht einmal im Besitz einer Arbeitserlaubnis.
Den Landkreis wollte er wegen der bereits bekannten Gründe kaum verlassen. Außerdem sprach er ein exzellentes Deutsch und unzählige längst eingebürgerte Protagonisten, die meisten slawischer Herkunft, beneideten ihn sehr, wenn sie ihn sprechen hörten.
Als diplomierter Jurist lebte er von „Gutschein-Karten“. Als das Sozialamt von ihm verlangt hatte, einem „Ein-Euro-Job“ nachzugehen, war er vergangenes Jahr, während er für die Stadt arbeitete, aus sechs Metern Höhe gestürzt und hatte sich dabei schwer verletzt.
Seine Ehefrau, ohne jemals krank gewesen zu sein, musste wegen der erlebten Metamorphosen und Odysseen regelmäßig zum Neuropsychiater. Denn nur dank des Gutachtens eines Fachmannes verringerte die Ausländerbehörde den Druck, war gnädig und bewilligte eine weitere dreimonatige Aufenthaltsverlängerung.
Der Tochter, die das Gymnasium mit besten Noten abgeschlossen hatte, wurde ein Stipendium für das Studium versprochen.
Jetzt bewegte sich auch etwas in Sachen Wohnung. Sollte es in der Tat der Fall sein, nichts Weiteres als das wollte Agron Iravosok.
Nun sollte es danach gehen, wie es geheißen hatte, dass für eine Wohnung so und so viel nötig wäre - Unsinn! Nicht einmal Kaffee hatten die von der Kommission getrunken, als sie ihn in seinem Ambiente besuchten, und auch nicht ein einziges gutes Wort hatten sie für ihn gehabt.
Eines Tages wurde davon gesprochen, dass er eine Wohnung in der neuen Siedlung, genau in dem Stadtzentrum, bekommen würde. Alles drehte sich nun um die zukünftige Wohnung. Mal kam ihm das ganz normal vor, ganz selbstverständlich, doch dann auch wieder außergewöhnlich.
„Letzten Endes“, sagte er einmal zu seiner Ehefrau, „ich habe es mir verdient. All die Jahre habe ich weder dem Staat noch dem Amt das Herz gebrochen, ich habe sie nie enttäuscht. Dem `Ein-Euro-Job´ bin ich ebenfalls regelmäßig nachgekommen. Nie habe ich schwarz gearbeitet. Einer normalen Arbeit durfte ich die gesamten Jahre nicht nachgehen, mangels Arbeitserlaubnis. Warum einem wie mir dann eine Wohnung verwehren?“
Wer stand auf der Straße überhaupt schlechter als er da? Und wer hatte überhaupt ein einziges Argument, um über ihn Schlechtes zu reden?
„Hör auf mich, Agron“, empfahl ihm eines Tages sein Arbeitskollege, während Agron für die Stadt für einen Euro diente, „spar etwas Geld und mache dem Bürgermeister ein Geschenk. Das tun sie alle ...“
Doch Agron Iravosok gab nicht auf. Außer an einem Abend - etwa gegen Mai, während die Forelle am See wild herumschlug. Da sagte er „Zum Teufel mit dem Schlaf“ und lieh sich die Angelausrüstung von seinem Freund aus und schaffte es, eine gut vier handbreit große Forelle zu fangen.
Sehr schüchtern und mit Angst im Herzen brachte er sie an dem kommenden frühen Morgen dem Bürgermeister vorbei. Seine Sekretärin tat so, als ob sie Agron Iravosok nicht kennen würde. Das irritierte ihn. Er wusste nicht, wie er es ihr sagen sollte, und als ob seine Sätze von einem Krampf heimgesucht worden wären, blieben sie ihm in der Kehle stecken.
Doch sie, leise und nett, steckte den Finger in die Forelle, wie ein Haken der Angelschnur, mit dem Agron die knallroten Futtermembranen der Forelle durchquert hatte, um sie zu überprüfen.
Ohne „Herzlichen Dank für Ihre Mühe“ zu sagen oder ihm wenigstens eine Tasse Kaffee anzubieten, neigte sie den Kopf leicht als so etwas wie ein gedachtes Dankeschön-Zeichen. Anschließend knallte sie ihm die Tür beinahe vor der Nase zu.
Eine große Unruhe hatte Agron Iravosok in sich, als er an die Bürotür des Bürgermeisters klopfte, mit der berühmten Forelle in der Hand, doch noch größer wurde diese, als er sich von dessen Büro entfernte.
„Oh Gott“, dachte er, „doch wenn der Bürgermeister Grünewald den Asylantrag und das Attest des Neuropsychiaters von meiner Ehegattin nicht anerkennen würde? Doch wenn ...?“
Natürlich rührte sich nichts, während Agron Iravosok vor der Tür des Amtes wartete, um die Bestätigung über die neue Wohnung ausgehändigt zu bekommen. Dass er eine neue Wohnung bekommen würde, das war allerdings hundertprozentig sicher.
Die Ernennung des Bürgermeisters Grünewald und die Versammlung