Die eiserne Ferse. Jack London
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Читать онлайн книгу Die eiserne Ferse - Jack London страница 14
Im Verlauf unserer Unterhaltung stellte ich eine einfache Frage nach der Haftpflicht gegenüber den Arbeitern bei Unfällen und erhielt von ihm eine statistische Belehrung.
»Es steht alles in den Büchern«, sagte er. »Alle Fälle sind gesammelt, und es ist unumstößlich, daß die wenigsten Unfälle sich in den Morgenstunden ereignen, daß ihre Zahl aber mit jeder Stunde, mit der der Arbeiter körperlich und geistig ermüdet und langsamer wird, rasch anschwillt.
»Weshalb, meinen Sie, hat Ihr Vater dreimal soviel Chancen für die Sicherheit von Leib und Leben wie ein Arbeiter? Er hat sie. Die Versicherungsgesellschaften In dem schrecklichen Kampf jener Jahrhunderte befand sich niemand dauernd in Sicherheit, soviele Reichtümer er auch aufgehäuft haben mochte. Aus Sorge um das Wohlergehen der Angehörigen ersann man das System der Versicherungen. Uns erscheint heute in unserm vernunftbegabten Zeitalter eine derartige Versicherung lächerlich und primitiv. Damals aber waren Versicherungen eine sehr ernste Angelegenheit. Das Lustigste daran ist, daß das Kapital der Versicherungsgesellschaften oft geplündert wurde, und zwar gerade von den Beamten, denen seine Verwaltung anvertraut war. wissen es. Ihn kostet eine Unfallversicherung auf tausend Dollar vier Dollar zwanzig jährlich, einen Arbeiter hingegen fünfzehn Dollar.«
»Und Sie?« fragte ich, und in diesem Augenblick spürte ich eine mehr als oberflächliche Unruhe in mir.
»Ach, als Revolutionär habe ich etwa achtmal soviel Aussicht wie ein Arbeiter, verletzt oder getötet zu werden«, antwortete er sorglos. »Von einem sehr geübten Chemiker, der mit Explosivstoffen umgeht, verlangt die Unfallversicherung die achtfache Prämie wie von einem Arbeiter. Ich glaube, mich würden sie überhaupt nicht aufnehmen. Warum fragen Sie?«
Ich konnte die Augen nicht aufschlagen und fühlte, wie mir das Blut heiß in die Wangen stieg. Nicht, weil er meine Unruhe bemerkt haben konnte, sondern weil ich sie selbst, und dazu in seiner Gegenwart, entdeckt hatte.
In diesem Augenblick trat mein Vater ein und machte Anstalten, mit mir fortzugehen. Ernst gab ihm einige Bücher zurück, die er von ihm geliehen hatte, und verabschiedete sich. Aber im Hinausgehen drehte er sich noch einmal um und sagte:
»Wissen Sie, statt daß Sie sich Ihre Seelenruhe stören lassen und ich die des Bischofs störe, sollten Sie lieber Frau Wickson und Frau Pertonwaithe aufsuchen. Ihre Männer sind, wie Sie wissen, die beiden Hauptaktionäre der Spinnerei. Wie alle andern Menschen, sind auch diese beiden Frauen an die Maschine gefesselt, wenn sie auch obendrauf sitzen.«
Sklaven der Maschine
Je mehr ich an Jacksons Arm dachte, desto tiefer war ich erschüttert. Ich stand einer Tatsache gegenüber. Zum ersten Male sah ich das Leben, wie es war. Meine Universitätsjahre, Studium und Kultur waren nichts Wirkliches gewesen. Ich hatte nur die Theorien des Lebens und der Gesellschaft kennengelernt, die sich gedruckt alle sehr schön ausnahmen, jetzt aber hatte ich das Leben selbst gesehen. Jacksons Arm war eine Tatsache. Ernsts Worte: »Tatsachen, Verehrtester, unwiderlegbare Tatsachen!« klangen mir noch in den Ohren.
Es erschien mir ungeheuerlich, unmöglich, daß unsere ganze Gesellschaft auf Blut begründet sein sollte. Aber Jackson! Ich konnte nicht von ihm loskommen. Immer wieder flogen meine Gedanken zu ihm zurück, wie die Kompaßnadel zum Pol. Er war ungeheuerlich behandelt worden. Man hatte ihm sein Blut nicht bezahlt, um eine höhere Dividende ausschütten zu können. Und ich kannte eine ganze Reihe glücklicher, wohlhabender Menschen, die diese Dividende erhalten und Nutzen aus Jacksons Blut gezogen hatten. Konnte ein Mann so ungeheuerlich behandelt werden, und konnte die Gesellschaft so sorglos ihren Weg wandeln, mochten dann nicht viele Menschen so ungeheuerlich behandelt worden sein? Mir fielen die Frauen in Chikago ein, von denen Ernst gesprochen hatte, die für neunzig Cents die Woche arbeiteten, die Kinder, die in den Spinnereien im Süden fronten. Und ich konnte ihre blassen, weißen Hände, aus denen das Blut herausgepreßt war, sehen, wie sie die Stoffe für meinen Mantel herstellten. Und dann dachte ich wieder an die Sierra-Spinnereien und die Dividenden, die bezahlt worden waren, und deutlich sah ich das Blut Jacksons auf meinem Mantel. Ich konnte Jackson nicht entgehen. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu ihm zurück.
Tief in meinem Innern hatte ich das Gefühl, daß ich am Rande eines Abgrunds stände. Mir war, als sollte mir eine neue, furchtbare Offenbarung des Lebens werden. Und nicht mir allein. Meine ganze Welt stürzte zusammen. Mein Vater zum Beispiel! Ich konnte den Einfluß Ernsts an ihm beobachten. Und der Bischof! Als ich ihn das letzte Mal sah, hatte er einem Kranken geglichen. Er befand sich in einer nervösen Erregung, und in seinen Augen lag ein unaussprechliches Grauen. Aus dem wenigen, das ich erfuhr, konnte ich ersehen, daß Ernst sein Versprechen, ihm die Hölle zu zeigen, gehalten hatte. Was für Höllenszenen der Bischof aber gesehen hatte, erfuhr ich nicht, denn vor Entsetzen schien er nicht darüber sprechen zu können.
Als ich einmal besonders stark fühlte, daß in meiner kleinen Welt und in allem um mich her das Unterste zu oberst gekehrt wurde, dachte ich, daß Ernst die Ursache sei; und ich dachte weiter: »Wir waren so glücklich und zufrieden, ehe er kam!« Aber im selben Augenblick empfand ich diesen Gedanken als Verrat an der Wahrheit, und Ernst erschien mir wie ein Verklärter, ein Wahrheitsapostel, der mit strahlendem Antlitz und der Furchtlosigkeit eines Engels Gottes für Wahrheit und Recht, für die Armen, Verlassenen und Unterdrückten kämpfte. Und dann stand er wieder in einer andern Gestalt vor mir, in der Jesu! Auch Jesus hatte für die Verlassenen und Unterdrückten gegen die ganze bestehende Macht der Priester und Pharisäer Partei ergriffen. Und ich dachte an seinen Tod am Kreuze, und mein Herz krampfte sich zusammen, wenn ich an Ernst dachte. War auch er für das Kreuz bestimmt? – Er, mit seiner klingenden, kriegerischen Stimme und all seinem herrlichen Mannesmut!
Und in diesem Augenblick wußte ich, daß ich ihn liebte, daß ich vor Verlangen, ihn zu trösten, verging. Ich dachte an sein Leben. Niedrig, rauh und armselig mußte es gewesen sein. Und ich dachte an seinen Vater, der für ihn gelogen und gestohlen und sich zu Tode gearbeitet hatte. Und er selbst hatte als zehnjähriger Knabe in der Spinnerei arbeiten müssen! Mein Herz schien zerspringen zu wollen vor Sehnsucht, ihn mit meinen Armen zu umschlingen und sein Haupt an meiner Schulter zu bergen – dieses Haupt, das von so vielen Gedanken schmerzen mußte, und das in einer freundlichen Stunde Ruhe, Linderung und Vergessen finden sollte!
Ich traf Rechtsanwalt Ingram bei einer kirchlichen Veranstaltung. Ich kannte ihn seit Jahren sehr gut. Ich entdeckte ihn hinter großen Palmen und Gummibäumen, ohne daß er indessen etwas davon ahnte. Er begegnete mir mit konventioneller Freundlichkeit und Höflichkeit. Er war immer sehr elegant, taktvoll, diplomatisch und aufmerksam und machte äußerlich den distinguiertesten Eindruck aller Herren in der Gesellschaft. Neben ihm sah selbst der verehrte Rektor der Universität unelegant und unbedeutend aus. Und doch sah ich, daß Ingram sich in derselben Lage befand wie die unbelesenen Maschinenarbeiter. Auch er war nicht Herr seines Handelns. Auch er war an das Rad gefesselt. Nie werde ich die Veränderung vergessen, die mit ihm vorging, als ich den Fall Jackson erwähnte. Seine lächelnde Freundlichkeit verschwand wie ein Geist. Ein entsetzter Ausdruck entstellte plötzlich sein liebenswürdiges Gesicht. Ich spürte dieselbe Unruhe, die ich bei dem Ausbruch von James Smith gefühlt hatte. Aber Herr Ingram fluchte nicht. Das war der sichtbare Unterschied, der zwischen dem Arbeiter und ihm bestehen blieb. Man rühmte ihn als einen Mann von Witz, aber jetzt war nichts davon zu bemerken.
Er blickte nur, ganz unbewußt, hin und her, um eine Gelegenheit zu finden, mir zu entschlüpfen. Aber er stand zwischen Palmen und Gummibäumen.
Nein, ihm war nicht wohl bei dem Klang von Jacksons Namen. Warum ich die Angelegenheit erwähnt hätte? Mein Scherz gefiel ihm nicht. Es wäre geschmacklos und sehr unüberlegt von mir. Ob ich nicht wüßte, daß sein Beruf keine persönlichen Gefühle zuließe? Die ließe er zu