Die Insel des Dr. Moreau. H. G. Wells
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Gegen Mitternacht erstarb unser Gespräch über London, und wir standen Seite an Seite und lehnten uns über die Reling und starrten verträumt über die schweigende, sternenbeleuchtete See, und jeder folgte seinen eigenen Gedanken. Es war die richtige Atmosphäre zur Äußerung von Gefühlen, und ich begann mit meiner Dankbarkeit.
»Wenn ich es sagen darf«, sagte ich nach einer Weile, »Sie haben mir das Leben gerettet.«
»Zufall«, sagte er, »nichts als Zufall.«
»Ich danke lieber dem erreichbaren Werkzeug des Zufalls.«
»Danken Sie niemandem. Sie waren in Not und ich hatte das Wissen, und ich habe Ihnen Injektionen gemacht und Sie gefüttert. Mir war langweilig und ich wollte etwas zu tun haben. Wenn ich an dem Tag etwa abgehetzt gewesen wäre, oder mir hätte Ihr Gesicht nicht gefallen, ja – es ist eine sonderbare Frage, wo Sie da jetzt wären.«
Das dämpfte meine Stimmung ein wenig. »Auf jeden Fall –« begann ich.
»Es ist Zufall, sage ich Ihnen«, unterbrach er mich, »wie alles im Leben. Nur die Esel wollen das nicht einsehen. Warum bin ich jetzt hier – von der Zivilisation ausgestoßen –, statt ein glücklicher Mann zu sein und alle Freuden Londons zu genießen? Einfach, weil ich – vor elf Jahren – in einer Nebelnacht auf zehn Minuten den Kopf verloren hatte.«
Er hielt inne. »Ja?« sagte ich.
»Das ist alles.«
Wir versanken wieder in Schweigen. Dann lachte er. »Dies Sternenlicht hat etwas, was einem die Zunge löst. Ich bin ein Esel, und doch hätte ich irgendwie Lust, es Ihnen zu erzählen.«
»Was Sie mir auch erzählen, Sie können sich drauf verlassen, daß ich's für mich behalte ... Wenn Sie das meinen.«
Er stand im Begriff, zu beginnen, dann aber schüttelte er zweifelnd den Kopf. »Lassen Sie's«, sagte ich. »Mir ist's einerlei. Schließlich ist es besser, Sie behalten Ihr Geheimnis. Sie gewinnen nichts außer ein wenig Erleichterung, wenn ich Ihr Geheimnis achte. Wenn nicht ... ja?«
Er grunzte unentschieden. Ich fühlte, daß ich ihn an einer schwachen Stelle, in einer redseligen Stimmung gepackt hatte; aber, um die Wahrheit zu sagen, ich war nicht neugierig, zu erfahren, was einen jungen Studenten der Medizin aus London vertrieben haben konnte. Ich habe Phantasie. Ich zuckte die Schultern und wandte mich ab. Am Backbord lehnte eine stille, schwarze Gestalt und beobachtete die Sterne. Es war Montgomerys unheimlicher Begleiter. Er blickte bei meiner Bewegung schnell über die Schulter und sah dann wieder fort.
Es mag Ihnen als eine Kleinigkeit erscheinen, aber mir war, als hätte ich plötzlich einen Schlag erhalten. Das einzige Licht in unserer Nähe kam von einer Laterne am Steuer. Das Geschöpf wandte sich eine kurze Sekunde gegen diese Beleuchtung, und ich sah, daß die Augen, die mich anblickten, blaßgrün funkelten.
Ich wußte damals nicht, daß – zumindest ein rötliches – Leuchten in menschlichen Augen nicht selten ist. Mir kam das ganz und gar unmenschlich vor. Diese schwarze Gestalt mit ihren Feueraugen stürzte all meine Begriffe und Empfindungen um, und einen Moment traten mir die vergessenen Schrecken der Kindheit wieder vor Augen. Dann verschwand dieses Entsetzen, wie es gekommen war. Eine wunderliche schwarze Menschengestalt, eine Gestalt ohne besonderen Belang, beugte sich über die Reling und betrachtete das Sternenlicht, und ich hörte, wie Montgomery zu mir sprach.
»Ich denke, wir gehen dann hinein«, sagte er, »wenn Sie hiervon genug haben.«
Ich antwortete ihm ungeschickt. Wir gingen hinunter, und er wünschte mir an der Tür meiner Kabine gute Nacht.
Ich hatte ein paar sehr unerfreuliche Träume.
Der abnehmende Mond ging spät auf. Sein Licht warf einen blassen, weißen Strahl durch meine Kabine und zeichnete auf die Planken bei meiner Koje eine unheimliche Lichtfigur. Dann wachten die Hetzhunde auf und begannen zu heulen und zu bellen, so daß ich vor der Dämmerung des Sonnenaufgangs kaum mehr Schlaf fand.
5. Der Mann, der nicht wußte, wohin gehen
Am frühen Morgen – es war der zweite Morgen, nachdem ich mich erholt hatte, und, so glaube ich, der vierte, seit ich aufgefischt war – erwachte ich aus einem Wirbel aufregender Träume, Träume von Kanonen und heulendem Pöbel, und ich hörte heiseres Rufen über mir. Ich rieb mir die Augen und lauschte auf den Lärm, ohne zunächst zu wissen, wo ich war. Dann vernahm ich das Trappeln nackter Füße, den Lärm schwerer Gegenstände, die umhergeworfen wurden, und ein heftiges Kreischen und Rasseln von Ketten; hierauf das Geräusch des Wassers, als das Schiff plötzlich gewendet wurde. Eine schäumende gelbgrüne Welle schlug an dem kleinen runden Fenster vorbei. Ich schlüpfte eilig in meine Kleider und ging an Deck.
Als ich die Leiter heraufkam, sah ich gegen den rötlichen Himmel – denn die Sonne ging gerade auf – den breiten Rücken und das rote Haar des Kapitäns, und über seiner Schulter den Puma, der an einem Flaschenzug baumelte, welcher am Giekbaum des Besanmastes hing. Das arme Tier schien furchtbare Ängste auszustehen und kauerte am Boden seines kleinen Käfigs. »Über Bord damit!« schrie der Kapitän. »Über Bord damit! Wir wollen das Schiff bald von dem ganzen Unrat sauber haben.«
Er stand mir im Weg, so daß ich ihn notwendigerweise berühren mußte, um an Deck zu kommen. Er drehte sich erschrocken um und stolperte ein paar Schritte zurück, um mich anzustarren. »Hallo!« sagte er stumpfsinnig, und dann begannen seine Augen zu funkeln: »Ah, das ist Mister – Mister–?«
»Prendick«, sagte ich.
»Prendick, zum Henker!« sagte er. »Hören-Sie-auf – heißen Sie, Mister Hören-Sie-auf!«
Es lohnte nicht, dem Grobian zu antworten. Aber was er dann tat, hatte ich sicherlich nicht erwartet. Er streckte die Hand zum Fallreep, wo Montgomery mit einem untersetzten, weißhaarigen Mann in schmutzigem blauem Flanell stand, der offenbar gerade an Bord gekommen war. »Da hinaus, Mister verdammter Hören-Sie-auf. Da hinaus«, brüllte der Kapitän.
Montgomery und sein Gefährte drehten sich um, während er schrie.
»Was meinen Sie?« fragte ich.
»Da hinaus, Mister verdammter Hören-Sie-auf – das meine ich. Über Bord, Mister Hören-Sie-auf – und flott. Wir machen das Schiff klar, machen das ganze Satansschiff sauber. Und über Bord gehen Sie.«
Ich starrte ihn verblüfft an. Dann fiel mir ein, daß es genau das war, was ich wollte. Die Aussicht auf eine Reise als einziger Passagier mit diesem zanksüchtigen Trinker war alles andere als verlockend. Ich wandte mich zu Montgomery.
»Kann Sie nicht aufnehmen!« sagte Montgomerys Gefährte kurzangebunden.
»Sie können mich nicht aufnehmen!« stammelte ich erschrocken. Er hatte das vierschrötigste und entschlossenste Gesicht, das ich je erblickt hatte.
»Sehen Sie«, begann ich, indem ich mich zum Kapitän wandte.
»Über Bord«, sagte der Kapitän. »Dieses Schiff ist nicht länger für Tiere und Kannibalen und Schlimmeres als Tiere.