Den Tod für Tante Trudl!. Lukas Wolfgang Börner
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„Wieso, wieso?“, rufe ich in das stille Zimmer hinein. „Was habe ich denn getan?“
„Du machst eine schlimme Zeit durch“, raunt es plötzlich von dem Schatten meiner Mutter zu mir ans Bett.
„Du musst dir nicht alles gefallen lassen,“ fügt Papa hinzu, „aber bewahre deinen Stil. Das höchste Gut ist die Freiheit. Das zweithöchste ist der Stil.“
„Papa! Mama!“, schreie ich und springe aus den nassen Kissen heraus. Doch da sind die Schatteneltern schon verschwunden. Im nächsten Moment steht Tante Trudl in der Tür. Sie trägt einen braunen Schlafanzug und ihre Stirn ist in Sorgenfalten gelegt. „Hast du schlecht geträumt?“, fragt sie und ihre gesunden roten Backen verwandeln meine anfängliche Trauer in Zorn. Selbst wenn diese Person mitten in der Nacht an einem Werktag aus dem Schlaf gerissen wird, schaut sie gesünder aus als jedes Model einer Reformhauswerbung. Sie will mich anfassen, aber ich weiche zurück und verstecke mich unter meinem Bettzeug. Die beschwichtigenden Worte Tante Trudls machen alles nur noch schlimmer. Mit zischenden und fauchenden Lauten mache ich ihr klar, dass ich kein Interesse an ihrem Mitleid habe. Endlich verlässt sie das Zimmer. Dann erst werden meine Gefühle zurückverwandelt und ich weine wieder.
Aber ich habe nicht vergessen, was meine Eltern gesagt haben. Ich muss den Stil bewahren. Deshalb habe ich mir geschworen, nicht mehr zu spucken und mit Schimpfwörtern um mich zu schmeißen.
Außerdem habe ich meine Tante gestern gebeten, in den Keller umziehen zu dürfen. Dort war nämlich bis dato ein Gästezimmer, weil im ersten Stock, wo sich ihr und mein Schlafzimmer befanden, kein Platz dafür war. Ich hatte mich von Anfang an schon nicht wohlgefühlt, so dicht neben Trudls Zimmer zu schlafen. Nun trieb mich aber auch die Tatsache, dass im Keller mehr Schatten sind als im ersten Stock, dazu an, diese Bitte zu äußern.
Vielleicht mag dir das albern erscheinen. Aber es ist die Wahrheit. Du denkst, Schatten sind nur dort, wo auch ein bisschen Licht ist, weil man ohne etwas Licht ja keine Schatten sehen kann, aber da irrst du dich. Zum Beispiel fällt einem die Stille eines Raumes beim leisen Ticken einer Uhr besser auf, stiller ist es aber, wenn gar keine Uhr tickt. Die Menschen bemerken sie dann nur nicht, aber das hat mehr mit ihrer Blödheit als mit dieser Tatsache zu tun. Mir fallen auch in der totalen Dunkelheit die Schatten auf. Ich brauche kein Licht, um mit der Nase auf sie gedrückt zu werden. Ich brauche Schatten.
Tante Trudl hat mir den Wunsch gewährt; unter der Bedingung, dass ich sie nicht mehr Trudl, sondern Jertrud nenne. Ich habe diesem Deal zugestimmt, aber ich werde mich nicht daran halten. Es heißt: Ein Mann, ein Wort. Aber ich bin ja kein Mann. Wenn ich erst einmal mein ganzes Hab und Gut hier unten habe – und das meiste davon ist bereits hier –, dann werde ich sie wieder Trudl nennen. Schlicht und einfach aus dem Grund, weil sich mich ja auch nicht Maja, sondern bloß Steffi nennt.
Das war also die Geschichte, wie ich in den Keller gezogen bin, wo ich auch jetzt gerade sitze und schreibe. Eigentlich hätte an dieser Stelle ja der Steckbrief kommen sollen.
Ach, schei... ich meine ... pfeif drauf!
*
Italienurlaub Zweitausendundsoundsoviel
Das letzte, was ich mit meinen Eltern unternahm, war ein Italienurlaub in einer kleinen Bucht namens „Buonasera“ oder so ähnlich. Ich weiß es nicht mehr genau. Die anderen Begebenheiten dieses Urlaubs haben sich zu tief in mein Gedächtnis gebrannt, als dass ich mir unbedeutende Kleinigkeiten wie Namen noch merken könnte. Das einzigste, was ich außer der Katastrophe, dem Schicksalsschlag, diesem ... diesem ... ach, mir fehlt es ja an Worten, um das zu beschreiben, was mein Leben so jäh umkrempeln sollte, was mich hier her, in diesen Keller unter Tante Trudls Haus gebracht hat, was die alleinige Schuld an meiner ersten Begegnung mit der Qual trägt. Ach, es ist so schrecklich. So schrecklich. Und so lächerlich!
Ich weiß gar nicht, wie ich dir, du heimtückischster aller Leser, diese Tragödie beibringen soll, damit du recht weinst, so wie ich es jeden Abend tue. Es ist ja alles so lächerlich. Und ich fürchte mich so, du würdest lachen. Du würdest deinem Gesicht einen mitleidigen Anstrich geben, im tiefsten Innern würde es dich aber zerreißen vor Lachen. Ich weiß, dass es vielen so gegangen ist. Ich habe es danach in ihren Augen und an ihren geröteten Gesichtern gesehen. Tiefe Trauer und schlimme Bestürzung liegen nicht weit vom irren Gelächter entfernt, das weiß ich jetzt. Es gibt Todesfälle, die einen zuerst belustigen, bis man den schrecklichen Ernst dahinter begreift.
Stell dir beispielsweise vor, du säßest in einem Wirtshaus – es wurmt mich, von Wirtshäusern zu schreiben, denn hier, wo ich jetzt bin, gibt es keine Wirtshäuser, nur Gaststätten, wo sie die Teller reichlich mit „Buttermöhrchen“ und „Buttererbschen“ beladen. Dafür sind die angebrannten Schuhsohlenschnitzel aber umso kleiner; pfui Teufel! Wenn man nicht kochen kann, sollte man’s halt bleiben lassen! – also, nochmal: Stell dir vor, du säßest in einem Wirtshaus in Tupfing oder in Wien oder in Mailand oder sonst an irgendeinem Ort, wo es charakterlich aufrechte Menschen gibt, die richtige Schnitzel auf den Tisch bringen: Tellergroß und an der dunkelsten Stelle beige, dabei aber so dünn, dass man es als Lesezeichen verwenden könnte, wenn man sich nicht wie ein Wahnsinniger darauf stürzen und es hinunterschlingen würde.
Ach, Mann, ich komme schon wieder vom Hundertsten ins Tausendste. Das liegt daran, dass ich Hunger habe. Das Nahrungspyramidenessen und das Unvermögen des hiesigen Menschenschlags, richtig zu kochen, haben mich schlank werden lassen. Vor lauter Appetit auf ein gescheites Schnitzel habe ich einmal sogar mein Taschengeld gespart und bin durch die Großstadt getigert – ich gebrauche diesen Ausdruck absichtlich, denn ich fühlte mich wie ein wahnsinniger Tiger auf der Jagd – und bin zuletzt in ein „Schnitzelhaus“ eingekehrt, weil ich dachte, wo Schnitzelhaus dran steht, ist auch Schnitzelhaus drin. Ich habe mir das teuerste Schnitzel bestellt, dazu eine Coke und eine extra große Portion Kartoffelsalat. Während der Kellner fröhlich mit meiner Bestellung in der Küche verschwand, wartete ich zitternd vor Aufregung auf mein Essen. Endlich einmal keine Nahrungspyramide, dachte ich mir. Zuerst kam der hoch gewachsene Kellner zurück und brachte mir die Cola. Er war bester Laune. Das sind die Leute hier übrigens immer. Es ist eine der größten Kuriositäten der Welt, dass die Menschen in schönen Gegenden immer schlecht gelaunt und die Menschen in kreuzabgefuckten Gegenden gut gelaunt sind. Das verstehe, wer will! In Tupfing hatte man noch das Gefühl, dass man sich bei den Kellnern und Köchen entschuldigen musste, dort essen zu gehen. Neu eröffnete Buchhandlungen und Spielzeugläden betrat man nur mit beklommenem Gefühl, weil die Verkäuferinnen so griesgrämig waren, dass man es wirklich mit der Angst bekam. Erst nach mindestens vier gekauften Spielzeugen oder Büchern weichten diese Frauen dann auf und ließen sich zu einer freundlichen Grimasse hinreißen. Aber hier?
Die Leute wohnen zwischen oder in grauen Betonblöcken, schauen – wenn sie einmal Gelegenheit haben, in die Ferne zu schauen – auf eine weite ebene Fläche ohne Berge, ohne Täler und haben trotzdem immer gute Laune. Sie begrüßen einen auf der Straße, in den Geschäften, unterhalten sich mit einem, haben auch Töchter, die vielleicht in meine Klasse gehen und so weiter und so weiter. Manchmal frage ich mich, ob es der Gedanke an den Sommerurlaub ist, der einen Menschen glücklich oder wütend macht. Während ein Tupfinger sich jedes Jahr wieder ärgern muss, so viel Geld für einen Urlaub ausgegeben zu haben, wo es keine schönen Berge und Seen und prunkvollen Schlösser und wunderbare Schnitzel gibt, können sich Tante Trudl und ihre Komplizen das ganze Jahr auf ihren Urlaub vorbereiten. Und sie können ja wirklich in die ganze Welt fahren, denn so scheußlich wie daheim ist es wohl auch in der Sahara nicht.
Die Cola war noch ok. Aber dann, dann kam das Schnitzel. Und ich hatte gute Lust, den Teller zu packen und dem spaßigen Kellner um die Ohren zu schmeißen. Denn es bestand wieder nur ein Viertel des Tellerinhalts aus Schnitzel. Der Rest war wie gewöhnlich mit Buttermöhrchen und Buttererbschen