Vorm Mast. Wolfgang Bendick
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WACHE
Unser Schiff hat den westlichsten Teil Afrikas umrundet. Eigenartigerweise wurden die Tage anfangs länger, als wir Europa verlassen hatten und je weiter wir nach Süden fuhren. Doch dann plötzlich Pause. Die Sonne ging so gegen 6 Uhr morgens auf und um 6 Uhr abends unter. Tag und Nacht waren gleich lang. Wir Decksjungen sprachen davon zu unserem Ausbildungs-Offizier. Der kratzte sich erst mal seinen Bürstenschnitt. „Ist ja auch völlig logisch“, antwortete er. „Ja, aber warum?“ „In Deutschland sind im Winter die Tage kurz, weil die Sonne im Süden steht. Und im Sommer länger, weil sie nach Norden kommt. Am Nordpol ist dann 6 Monate Tag, am Südpol 6 Monate Nacht. Das hängt mit dem Einstrahlwinkel zusammen, je flacher der ist, umso länger der Tag. Jetzt war es an uns, unsere Köpfe zu kratzen. Klingt ja logisch, nur kapiert haben wir nichts. „Also, im Sommer wandert die Sonne bis zum nördlichen Wendekreis, dem Wendekreis des Steinbocks, im Winter bis zum südlichen, dem des Krebses. Das Gebiet zwischen diesen beiden nennt man Tropen. Frühlingsanfang und Herbstanfang steht die Sonne genau über dem Äquator. Winteranfang über dem südlichen, Sommeranfang über dem nördlichen Wendekreis. Da schaffen es ihre Strahlen bis zu den Polen und sogar darüber hinaus. Die Zone, die im Sommer dauernd beleuchtet wird, ist durch den Polarkreis begrenzt. Nördlich vom Polarkreis geht also die Sonne nicht unter, südlich davon schon. Je mehr man nach Süden geht, umso länger werden die Nächte im Sommer. Am Äquator hat man also eine Nacht von 12 Stunden und ebenso lange Tag. Und kaum Dämmerung. Gehen wir noch weiter nach Süden, werden die Nächte immer länger und ab dem südlichen Polarkreis herrscht dann dauernde Nacht.“ Wir schreiben all das in unser Heft. Doch auf unseren Gesichtern bleibt der Zweifel. „Das Beste ist, ihr nehmt heute Abend einen Fußball und eine Taschenlampe und probiert es aus!“
Auf jeden Fall ist unser Zeitgefühl ziemlich durcheinandergebracht, weil wir Richtung Westen gefahren sind. Mehrmals wurde nachts die Uhr um eine Stunde zurückgestellt, was 20 Minuten länger Wache bedeutet. Alle an Bord mussten davon unterrichtet werden, und an uns Wachgängern lag es, alle in unserem Bereich befindlichen Uhren zu verstellen. „Da müssten wir, sagen wir mal, aufgerundet ½ Überstunden gezahlt kriegen“, rechnete Inge aus. „Das gleicht sich doch wieder aus“, meint Sachsenberg. Seit Dakar fahren wir ja wieder nach Osten, und jede Wache wird dann um 20 Minuten kürzer.“
Auf maschinengetriebenen Schiffen auf großer Fahrt lebt man im Rhythmus des Drei-Wachen-Systems, sowohl im Maschinenraum als auch an Deck. Voll besetzt (drei Wachgänger und ein Offizier oder Ingenieur) sind die Wachen nur in kritischen Zonen oder Momenten. Der Tag und die Nacht werden in je 3 Zeiträume von 4 Stunden eingeteilt. Diese Zeitabschnitte, Wache genannt, werden durch Glockenschlag begonnen, das Glasen. Wachende für die einen ist zugleich Wachanfang für die anderen: 8 Glasen, 4 Doppelschläge, Mitternacht, die ‚Hundewache‘ löst die ‚Abendwache‘ ab. Jede halbe Stunde wird durch einen Glockenschlag angezeigt. ½ 1 Uhr: 1 Schlag, 1 Uhr: Doppelschlag, ½ 2: Doppelschlag plus 1 usw... 8 Glasen entspricht dann 4 Uhr früh, Beginn der ‚Morgenwache‘. Tagsüber dasselbe, mit dem Unterschied, dass die Brücke nur von einem Offizier besetzt ist. Der zweite Mann törnt zu, arbeitet an Deck, Flötentörn genannt, weil er auf ein Pfeifsignal sofort auf die Brücke eilen muss. Kompliziert sich eine Situation, müssen zuerst die anderen von der Wache raus, wenn das nicht ausreicht, auch die Freiwache, also diejenigen, die gerade Pause haben.
Auf Küstenmotorschiffen und Segelschiffen gilt das Zwei-Wachen-System. Die Mannschaft ist in 2 Hälften geteilt, die Backbordwache und die Steuerbordwache, von denen jede 6 Stunden Wache geht, zweimal am Tag. Auf Seglern reichte die Hängmattenzahl nur für die Freiwache. Alle anderen waren an Deck. Auf unserem Rattendampfer hatten wir zu unserem Glück jeder eine Koje, und wir mussten nicht warten, bis der andere aufsteht, um uns in die Falle zu legen. Dass eine Koje bisweilen in Häfen mit 2 Personen belegt war, von denen eine sich für das Übernachten sogar noch bezahlen ließ, blieb meist geheim, war Ausnahme…
Wache gehen heißt zuerst einmal wach werden, was anfangs ganz schön anstrengend sein kann. Und dann wach bleiben! Wie kann das hart sein... Wenn dir vor Müdigkeit die Augen zufallen oder hinterm Steuer die Knie wegsacken, wenn du dir sagst, nur für eine Sekunde die Augen schließen und es dich dann wie ein Elektroschock durchzuckt, weil nach drei Sekunden süßer Seligkeit du dich plötzlich in der harten Wirklichkeit wiederfindest... Die gemütlichste Wache ist die ‚Abendwache‘ von 8 - 12 Uhr. Man ist noch nicht im Bett gewesen und geht nachher verhältnismäßig früh schlafen. Vorsicht ist trotzdem geboten, weil es meist irgendwo an Bord rundgeht. Dass man da nicht hängen bleibt und mitfeiert…
Der Name ‚Hundewache‘ sagt ja schon alles aus über die 0-4 Uhr-Wache. Im Dunkeln aus dem Bett, im Dunkeln wieder ins Bett. ½ 8 Uhr Frühstück, meist nachher Zutörnen bis zum Abendessen, und wer geht schon um 6 ins Bett? Der Tag ist lang für einen Hundewächter. Das einzige, das mich dabei tröstete, war der Sternenhimmel. Ich konnte mich in ihm verlieren. Stellte mir vor, unsere Natal sei ein Raumschiff auf der Reise zu einer anderen Galaxie, wo es keine Kriege gibt. Alles schläft, einsam wacht...
Wenn man die Abend- und die Hundewache als schwarz-weiß bezeichnen kann, dann muss man die 4-8-Wache als bunt benennen. Außer bei Schlechtwetter, und selbst dann erlebt man auf ihr jeden Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Oft ist das auch der Augenblick der Positionsbestimmung, und da ist manchmal Hektik, man selber ist vielleicht im Kartenhaus, den Chronometer ablesen. Allein das Vorher und das Nachher ist für sich schon ein grandioses Schauspiel. Man muss schon auf einen hohen Berg steigen, um ein ähnliches Gefühl zu empfinden.
Schon seit zwei Tagen begleitete uns an Backbord ein schwarzer Streifen, die Küste Afrikas. Bald näherte sie sich. Pirogen, große Einbäume, mit schwarzen Gestalten an Bord, die angelten oder Netze auswarfen, machten uns die Navigation schwierig. Größere Fischerboote, mit Motoren ausgestattet, wagten sich oft noch weiter hinaus aufs Meer, wie die zahlreichen Trawler, rostig und meist in einem verfallenen Zustand. Alle begleitet von einem kreischenden, aggressiven Möwenschwarm. Letzter Unterrichtstag. „Denkt daran, eure Berichtshefte auf Vordermann zu bringen, sonst kein Landgang!“, dämpft der Ausbildungsoffizier unsere Freude auf Afrika.
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