Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe
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»Nachbar! Ihr denkt mich zu einem falschen Schritt zu verleiten; es soll Euch nicht gelingen.«
»Weder verleiten will ich Euch zu einem falschen Schritt, noch von einem falschen zurückhalten; Euer Entschluß ist gerecht: er geziemt dem Franzosen, dem Königslieutenant; aber bedenkt, daß Ihr auch Graf Thoranc seid.«
»Der hat hier nicht mitzusprechen.«
»Man sollte den braven Mann doch auch hören.«
»Nun, was würde er denn sagen?«
»›Herr Königslieutenant!‹ würde er sagen, ›Ihr habt so lange mit so viel dunklen, unwilligen, ungeschickten Menschen Geduld gehabt, wenn sie es Euch nur nicht gar zu arg machten. Dieser hat's freilich sehr arg gemacht; aber gewinnt es über Euch, Herr Königslieutenant! und jedermann wird Euch deswegen loben und preisen.‹«
»Ihr wißt, daß ich Eure Possen manchmal leiden kann, aber mißbraucht nicht mein Wohlwollen. Diese Menschen, sind sie denn ganz verblendet? Hätten wir die Schlacht verloren, in diesem Augenblick, was würde ihr Schicksal sein? Wir schlagen uns bis vor die Tore, wir sperren die Stadt, wir halten, wir verteidigen uns, um unsere Retirade über die Brücke zu decken. Glaubt Ihr, daß der Feind die Hände in den Schoß gelegt hätte? Er wirft Granaten und was er bei der Hand hat, und sie zünden, wo sie können. Dieser Hausbesitzer da, was will er? In diesen Zimmern hier platzte jetzt wohl eine Feuerkugel und eine andere folgte hintendrein; in diesen Zimmern, deren vermaledeite Pekingtapeten ich geschont, mich geniert habe, meine Landkarten nicht aufzunageln! Den ganzen Tag hätten sie auf den Knien liegen sollen.«
»Wie viele haben das getan!«
»Sie hätten sollen den Segen für uns erflehen; den Generalen und Offizieren mit Ehren- und Freudenzeichen, den ermatteten Gemeinen mit Erquickung entgegengehen. Anstatt dessen verdirbt mir der Gift dieses Parteigeistes die schönsten, glücklichsten, durch so viel Sorgen und Anstrengungen erworbenen Augenblicke meines Lebens!«
»Es ist ein Parteigeist; aber Ihr werdet ihn durch die Bestrafung dieses Mannes nur vermehren. Die mit ihm Gleichgesinnten werden Euch als einen Tyrannen, als einen Barbaren ausschreien; sie werden ihn als einen Märtyrer betrachten, der für die gute Sache gelitten hat; und selbst die anders Gesinnten, die jetzt seine Gegner sind, werden in ihm nur den Mitbürger sehen, werden ihn bedauern und, indem sie Euch recht geben, dennoch finden, daß Ihr zu hart verfahren seid.«
»Ich habe Euch schon zu lange angehört; macht, daß Ihr fortkommt!«
»So hört nur noch dieses! Bedenkt, daß es das Unerhörteste ist, was diesem Manne, was dieser Familie begegnen könnte. Ihr hattet nicht Ursache, von dem guten Willen des Hausherrn erbaut zu sein; aber die Hausfrau ist allen Euren Wünschen zuvorgekommen, und die Kinder haben Euch als ihren Oheim betrachtet. Mit diesem einzigen Schlag werdet Ihr den Frieden und das Glück dieser Wohnung auf ewig zerstören. Ja, ich kann wohl sagen, eine Bombe, die ins Haus gefallen wäre, würde nicht größere Verwüstungen darin angerichtet haben. Ich habe Euch so oft über Eure Fassung bewundert, Herr Graf; gebt mir diesmal Gelegenheit, Euch anzubeten. Ein Krieger ist ehrwürdig, der sich selbst in Feindes Haus als einen Gastfreund betrachtet; hier ist kein Feind, nur ein Verirrter. Gewinnt es über Euch, und es wird Euch zu ewigem Ruhme gereichen!«
»Das müßte wunderlich zugehen«, versetzte der Graf mit einem Lächeln.
»Nur ganz natürlich«, erwiderte der Dolmetscher. »Ich habe die Frau, die Kinder nicht zu Euren Füßen geschickt: denn ich weiß, daß Euch solche Szenen verdrießlich sind; aber ich will Euch die Frau, die Kinder schildern, wie sie Euch danken; ich will sie Euch schildern, wie sie sich zeitlebens von dem Tage der Schlacht bei Bergen und von Eurer Großmut an diesem Tage unterhalten, wie sie es Kindern und Kindeskindern erzählen, und auch Fremden ihr Interesse für Euch einzuflößen wissen: eine Handlung dieser Art kann nicht untergehen!«
»Ihr trefft meine schwache Seite nicht, Dolmetscher. An den Nachruhm pfleg' ich nicht zu denken, der ist für andere, nicht für mich; aber im Augenblick recht zu tun, meine Pflicht nicht zu versäumen, meiner Ehre nichts zu vergeben, das ist meine Sorge. Wir haben schon zu viel Worte gemacht; jetzt geht hin – und laßt Euch von den Undankbaren danken, die ich verschone!«
Der Dolmetsch, durch diesen unerwartet glücklichen Ausgang überrascht und bewegt, konnte sich der Tränen nicht enthalten, und wollte dem Grafen die Hände küssen; der Graf wies ihn ab und sagte streng und ernst: »Ihr wißt, daß ich dergleichen nicht leiden kann!« Und mit diesen Worten trat er auf den Vorsaal, um die andringenden Geschäfte zu besorgen, und das Begehren so vieler wartenden Menschen zu vernehmen. So ward die Sache beigelegt, und wir feierten den andern Morgen, bei den Überbleibseln der gestrigen Zuckergeschenke, das Vorübergehen eines Übels, dessen Androhen wir glücklich verschlafen hatten.
Ob der Dolmetsch wirklich so weise gesprochen, oder ob er sich die Szene nur so ausgemalt, wie man es wohl nach einer guten und glücklichen Handlung zu tun pflegt, will ich nicht entscheiden; wenigstens hat er bei Wiedererzählung derselben niemals variiert. Genug, dieser Tag dünkte ihm, so wie der sorgenvollste, so auch der glorreichste seines Lebens.
Wie sehr übrigens der Graf alles falsche Zeremoniell abgelehnt, keinen Titel, der ihm nicht gebührte, jemals angenommen, und wie er in seinen heitern Stunden immer geistreich gewesen, davon soll eine kleine Begebenheit ein Zeugnis ablegen.
Ein vornehmer Mann, der aber auch unter die abstrusen einsamen Frankfurter gehörte, glaubte sich über seine Einquartierung beklagen zu müssen. Er kam persönlich, und der Dolmetsch bot ihm seine Dienste an; jener aber meinte derselben nicht zu bedürfen. Er trat vor den Grafen mit einer anständigen Verbeugung und sagte: »Exzellenz!« Der Graf gab ihm die Verbeugung zurück, so wie die Exzellenz. Betroffen von dieser Ehrenbezeigung, nicht anders glaubend, als der Titel sei zu gering, bückte er sich tiefer, und sagte: »Monseigneur!« – »Mein Herr«, sagte der Graf ganz ernsthaft, »wir wollen nicht weiter gehen, denn sonst könnten wir es leicht bis zur Majestät bringen.« – Der andere war äußerst verlegen und wußte kein Wort zu sagen. Der Dolmetsch, in einiger Entfernung stehend und von der ganzen Sache unterrichtet, war boshaft genug, sich nicht zu rühren; der Graf aber, mit großer Heiterkeit, fuhr fort: »Zum Beispiel, mein Herr, wie heißen sie?« – »Spangenberg«, versetzte jener – »Und ich«, sagte der Graf, »heiße Thoranc. Spangenberg, was wollt Ihr von Thoranc? und nun setzen wir uns, die Sache soll gleich abgetan sein.«
Und so wurde die Sache auch gleich zu großer Zufriedenheit desjenigen abgetan, den ich hier Spangenberg genannt habe, und die Geschichte noch an selbigem Abend von dem schadenfrohen Dolmetsch in unserm Familienkreise nicht nur erzählt, sondern mit allen Umständen und Gebärden aufgeführt.
Nach solchen Verwirrungen, Unruhen und Bedrängnissen fand sich gar bald die vorige Sicherheit und der Leichtsinn wieder, mit welchem besonders die Jugend von Tag zu Tag lebt, wenn es nur einigermaßen angehen will. Meine Leidenschaft zu dem französischen Theater wuchs mit jeder Vorstellung; ich versäumte keinen Abend, ob ich gleich jedesmal, wenn ich nach dem Schauspiel mich zur speisenden Familie an den Tisch setzte und mich gar oft nur mit einigen Resten begnügte, die steten Vorwürfe des Vaters zu dulden hatte: das Theater sei zu gar nichts nütze, und könne zu gar nichts führen. Ich rief in solchem Falle gewöhnlich alle und jede Argumente hervor, welche den Verteidigern des Schauspiels zur Hand sind, wenn sie in eine gleiche Not wie die meinige geraten. Das Laster im Glück, die Tugend im Unglück wurden zuletzt durch die poetische Gerechtigkeit wieder ins Gleichgewicht gebracht. Die schönen Beispiele von bestraften Vergehungen, »Miß Sara Sampson« und der »Kaufmann von London«, wurden sehr lebhaft von mir hervorgehoben; aber ich zog dagegen öfters den kürzern, wenn die »Schelmstreiche Scapins« und dergleichen auf dem Zettel standen, und ich mir das Behagen mußte vorwerfen lassen,