Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe
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Durch diese Neigung zum Klavierspielen ward Pfeil auf die Instrumente selbst geführt, und indem er sich die besten zu verschaffen hoffte, kam er in Verhältnisse mit Friederici in Gera, dessen Instrumente weit und breit berühmt waren. Er nahm eine Anzahl davon in Kommission, und hatte nun die Freude, nicht nur etwa einen Flügel, sondern mehrere in seiner Wohnung aufgestellt zu sehen, sich darauf zu üben und hören zu lassen.
Auch in unser Haus brachte die Lebendigkeit dieses Mannes einen größern Musikbetrieb. Mein Vater blieb mit ihm, bis auf die strittigen Punkte, in einem dauernden guten Verhältnisse. Auch für uns ward ein großer Friedericischer Flügel angeschafft, den ich, bei meinem Klavier verweilend, wenig berührte, der aber meiner Schwester zu desto größerer Qual gedieh, weil sie, um das neue Instrument gehörig zu ehren, täglich noch einige Zeit mehr auf ihre Übungen zu wenden hatte; wobei mein Vater als Aufseher, Pfeil aber als Musterbild und antreibender Hausfreund abwechselnd zur Seite standen.
Eine besondere Liebhaberei meines Vaters machte uns Kindern viel Unbequemlichkeit. Es war nämlich die Seidenzucht, von deren Vorteil, wenn sie allgemeiner verbreitet würde, er einen großen Begriff hatte. Einige Bekanntschaften in Hanau, wo man die Zucht der Würmer sehr sorgfältig betrieb, gaben ihm die nächste Veranlassung. Von dorther wurden ihm zu rechter Zeit die Eier gesendet; und sobald die Maulbeerbäume genügsames Laub zeigten, ließ man sie ausschlüpfen, und wartete der kaum sichtbaren Geschöpfe mit großer Sorgfalt. In einem Mansardzimmer waren Tische und Gestelle mit Brettern aufgeschlagen, um ihnen mehr Raum und Unterhalt zu bereiten: denn sie wuchsen schnell, und waren nach der letzten Häutung so heißhungrig, daß man kaum Blätter genug herbeischaffen konnte, sie zu nähren; ja sie mußten Tag und Nacht gefüttert werden, weil eben alles darauf ankommt, daß sie der Nahrung ja nicht zu einer Zeit ermangeln, wo die große und wundersame Veränderung in ihnen vorgehen soll. War die Witterung günstig, so konnte man freilich dieses Geschäft als eine lustige Unterhaltung ansehen; trat aber Kälte ein, daß die Maulbeerbäume litten, so machte es große Not. Noch unangenehmer aber war es, wenn in der letzten Epoche Regen einfiel: denn diese Geschöpfe können die Feuchtigkeit gar nicht vertragen; und so mußten die benetzten Blätter sorgfältig abgewischt und getrocknet werden, welches denn doch nicht immer so genau geschehen konnte, und aus dieser oder vielleicht auch einer andern Ursache kamen mancherlei Krankheiten unter die Herde, wodurch die armen Kreaturen zu Tausenden hingerafft wurden. Die daraus entstehende Fäulnis erregte einen wirklich pestartigen Geruch, und da man die toten und kranken wegschaffen und von den gesunden absondern mußte, um nur einige zu retten, so war es in der Tat ein äußerst beschwerliches und widerliches Geschäft, das uns Kindern manche böse Stunde verursachte.
Nachdem wir nun eines Jahrs die schönsten Frühlings und Sommerwochen mit Wartung der Seidenwürmer hingebracht, mußten wir dem Vater in einem andern Geschäft beistehen, das, obgleich einfacher, uns dennoch nicht weniger beschwerlich ward. Die römischen Prospekte nämlich, welche in dem alten Hause, in schwarze Stäbe oben und unten eingefaßt, an den Wänden mehrere Jahre gehangen hatten, waren durch Licht, Staub und Rauch sehr vergilbt, und durch die Fliegen nicht wenig unscheinbar geworden. War nun eine solche Unreinlichkeit in dem neuen Hause nicht zulässig, so hatten diese Bilder für meinen Vater auch durch seine längere Entferntheit von den vorgestellten Gegenden an Wert gewonnen. Denn im Anfange dienen uns dergleichen Abbildungen, die erst kurz vorher empfangenen Eindrücke aufzufrischen und zu beleben. Sie scheinen uns gering gegen diese und meistens nur ein trauriges Surrogat. Verlischt hingegen das Andenken der Urgestalten immer mehr und mehr, so treten die Nachbildungen unvermerkt an ihre Stelle, sie werden uns so teuer, als es jene waren, und was wir anfangs mißgeachtet, erwirbt sich nunmehr unsre Schätzung und Neigung. So geht es mit allen Abbildungen, besonders auch mit Porträten. Nicht leicht ist jemand mit dem Konterfei eines Gegenwärtigen zufrieden, und wie erwünscht ist uns jeder Schattenriß eines Abwesenden oder gar Abgeschiedenen.
Genug, in diesem Gefühl seiner bisherigen Verschwendung wollte mein Vater jene Kupferstiche so viel wie möglich wieder hergestellt wissen. Daß dieses durch Bleichen möglich sei, war bekannt; und diese bei großen Blättern immer bedenkliche Operation wurde unter ziemlich ungünstigen Lokalumständen vorgenommen. Denn die großen Bretter, worauf die angerauchten Kupfer befeuchtet und der Sonne ausgestellt wurden, standen vor Mansardfenstern in den Dachrinnen an das Dach gelehnt, und waren daher manchen Unfällen ausgesetzt. Dabei war die Hauptsache, daß das Papier niemals austrocknen durfte, sondern immer feucht gehalten werden mußte. Diese Obliegenheit hatte ich und meine Schwester, wobei uns denn wegen der Langenweile und Ungeduld, wegen der Aufmerksamkeit, die uns keine Zerstreuung zuließ, ein sonst so sehr erwünschter Müßiggang zur höchsten Qual gereichte. Die Sache ward gleichwohl durchgesetzt, und der Buchbinder, der jedes Blatt auf starkes Papier aufzog, tat sein Bestes, die hier und da durch unsre Fahrlässigkeit zerrissenen Ränder auszugleichen und herzustellen. Die sämtlichen Blätter wurden in einen Band zusammengefaßt und waren für diesmal gerettet.
Damit es uns Kindern aber ja nicht an dem Allerlei des Lebens und Lernens fehlen möchte, so mußte sich gerade um diese Zeit ein englischer Sprachmeister melden, welcher sich anheischig machte, innerhalb vier Wochen einen jeden, der nicht ganz roh in Sprachen sei, die englische zu lehren und ihn so weit zu bringen, daß er sich mit einigem Fleiß weiter helfen könne. Er nahm ein mäßiges Honorar; die Anzahl der Schüler in einer Stunde war ihm gleichgültig. Mein Vater entschloß sich auf der Stelle, den Versuch zu machen, und nahm mit mir und meiner Schwester bei dem expediten Meister Lektion. Die Stunden wurden treulich gehalten, am Repetieren fehlte es auch nicht; man ließ die vier Wochen über eher einige andere Übungen liegen; der Lehrer schied von uns und wir von ihm mit Zufriedenheit. Da er sich länger in der Stadt aufhielt und viele Kunden fand, so kam er von Zeit zu Zeit nachzusehen und nachzuhelfen, dankbar, daß wir unter die ersten gehörten, welche Zutrauen zu ihm gehabt, und stolz, uns den übrigen als Muster anführen zu können.
In Gefolg von diesem hegte mein Vater eine neue Sorgfalt, daß auch das Englische hübsch in der Reihe der übrigen Sprachbeschäftigungen bliebe. Nun bekenne ich, daß es mir immer lästiger wurde, bald aus dieser bald aus jener Grammatik oder Beispielsammlung, bald aus diesem oder jenem Autor den Anlaß zu meinen Arbeiten zu nehmen, und so meinen Anteil an den Gegenständen zugleich mit den Stunden zu verzetteln. Ich kam daher auf den Gedanken, alles mit einmal abzutun, und erfand einen Roman von sechs bis sieben Geschwistern, die, von einander entfernt und in der Welt zerstreut, sich wechselseitig Nachricht von ihren Zuständen und Empfindungen mitteilen. Der älteste Bruder gibt in gutem Deutsch Bericht von allerlei Gegenständen und Ereignissen seiner Reise. Die Schwester, in einem frauenzimmerlichen Stil, mit lauter Punkten und in kurzen Sätzen, ungefähr wie nachher »Siegwart« geschrieben wurde, erwidert bald ihm, bald den andern Geschwistern, was sie teils von häuslichen Verhältnissen, teils von Herzensangelegenheiten zu erzählen hat. Ein Bruder studiert Theologie und schreibt ein sehr förmliches Latein, dem er manchmal ein griechisches Postskript hinzufügt. Einem folgenden, in Hamburg als Handlungsdiener angestellt, ward natürlich die englische Korrespondenz zuteil, so wie einem jüngern, der sich in Marseille aufhielt, die französische. Zum Italienischen fand sich ein Musikus auf seinem ersten Ausflug in die Welt, und der jüngste, eine Art von naseweisem Nestquackelchen, hatte, da ihm die übrigen Sprachen abgeschnitten waren, sich aufs Judendeutsch gelegt, und brachte