Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe
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Indessen mochte ihm meine die Bibel nach allen Seiten durchkreuzende, kindische Lebhaftigkeit doch ziemlich ernsthaft und einiger Nachhülfe wert geschienen haben. Er verwies mich daher nach einiger Zeit auf das große englische Bibelwerk, welches in seiner Bibliothek bereitstand, und in welchem die Auslegung schwerer und bedenklicher Stellen auf eine verständige und kluge Weise unternommen war. Die Übersetzung hatte durch die großen Bemühungen deutscher Gottesgelehrten Vorzüge vor dem Original erhalten. Die verschiedenen Meinungen waren angeführt, und zuletzt eine Art von Vermittelung versucht, wobei die Würde des Buchs, der Grund der Religion und der Menschenverstand einigermaßen neben einander bestehen konnten. So oft ich nun gegen Ende der Stunde mit hergebrachten Fragen und Zweifeln auftrat, so oft deutete er auf das Repositorium; ich holte mir den Band, er ließ mich lesen, blätterte in seinem Lucian, und wenn ich über das Buch meine Anmerkungen machte, war sein gewöhnliches Lachen alles, wodurch er meinen Scharfsinn erwiderte. In den langen Sommertagen ließ er mich sitzen, solange ich lesen konnte, manchmal allein; nur dauerte es eine Weile, bis er mir erlaubte, einen Band nach dem andern mit nach Hause zu nehmen.
Der Mensch mag sich wenden wohin er will, er mag unternehmen was es auch sei, stets wird er auf jenen Weg wieder zurückkehren, den ihm die Natur einmal vorgezeichnet hat. So erging es auch mir im gegenwärtigen Falle. Die Bemühungen um die Sprache, um den Inhalt der Heiligen Schriften selbst endigten zuletzt damit, daß von jenem schönen und viel gepriesenen Lande, seiner Umgebung und Nachbarschaft, sowie von den Völkern und Ereignissen, welche jenen Fleck der Erde durch Jahrtausende hindurch verherrlichten, eine lebhaftere Vorstellung in meiner Einbildungskraft hervorging.
Dieser kleine Raum sollte den Ursprung und das Wachstum des Menschengeschlechts sehen; von dorther sollten die ersten und einzigsten Nachrichten der Urgeschichte zu uns gelangen, und ein solches Lokal sollte zugleich so einfach und faßlich, als mannigfaltig und zu den wundersamsten Wanderungen und Ansiedelungen geeignet vor unserer Einbildungskraft liegen. Hier zwischen vier benannten Flüssen war aus der ganzen zu bewohnenden Erde ein kleiner, höchst anmutiger Raum dem jugendlichen Menschen ausgesondert. Hier sollte er seine ersten Fähigkeiten entwickeln, und hier sollte ihn zugleich das Los treffen, das seiner ganzen Nachkommenschaft beschieden war, seine Ruhe zu verlieren, indem er nach Erkenntnis strebte. Das Paradies war verscherzt; die Menschen mehrten und verschlimmerten sich; die an die Unarten dieses Geschlechte noch nicht gewohnten Elohim wurden ungeduldig und vernichteten es von Grund aus. Nur wenige wurden aus der allgemeinen Überschwemmung gerettet; und kaum hatte sich diese greuliche Flut verlaufen, als der bekannte vaterländische Boden schon wieder vor den Blicken der dankbaren Geretteten lag. Zwei Flüsse von vieren, Euphrat und Tigris, flossen noch in ihren Betten. Der Name des ersten blieb; den andern schien sein Lauf zu bezeichnen. Genauere Spuren des Paradieses wären nach einer so großen Umwälzung nicht zu fordern gewesen. Das erneute Menschengeschlecht ging von hier zum zweitenmal aus; es fand Gelegenheit, sich auf alle Arten zu nähren und zu beschäftigen, am meisten aber große Herden zahmer Geschöpfe um sich zu versammeln und mit ihnen nach allen Seiten hinzuziehen.
Diese Lebensweise sowie die Vermehrung der Stämme nötigte die Völker bald, sich von einander zu entfernen. Sie konnten sich sogleich nicht entschließen, ihre Verwandten und Freunde für immer fahren zu lassen; sie kamen auf den Gedanken, einen hohen Turm zu bauen, der ihnen aus weiter Ferne den Weg wieder zurück weisen sollte. Aber dieser Versuch mißlang wie jenes erste Bestreben. Sie sollten nicht zugleich glücklich und klug, zahlreich und einig sein. Die Elohim verwirrten sie, der Bau unterblieb, die Menschen zerstreuten sich; die Welt war bevölkert, aber entzweit.
Unser Blick, unser Anteil bleibt aber noch immer an diese Gegenden geheftet. Endlich geht abermals ein Stammvater von hier aus, der so glücklich ist, seinen Nachkommen einen entschiedenen Charakter aufzuprägen, und sie dadurch für ewige Zeiten zu einer großen, und bei allem Glücks- und Ortswechsel zusammenhaltenden Nation zu vereinigen.
Vom Euphrat aus, nicht ohne göttlichen Fingerzeig, wandert Abraham gegen Westen. Die Wüste setzt seinem Zug kein entschiedenes Hindernis entgegen; er gelangt an den Jordan, zieht über den Fluß und verbreitet sich in den schönen mittägigen Gegenden von Palästina. Dieses Land war schon früher in Besitz genommen und ziemlich bewohnt. Berge, nicht allzu hoch aber steinig und unfruchtbar, waren von vielen bewässerten, dem Anbau günstigen Tälern durchschnitten. Städte, Flecken, einzelne Ansiedelungen lagen zerstreut auf der Fläche, auf Abhängen des großen Tals, dessen Wasser sich im Jordan sammeln. So bewohnt, so bebaut war das Land, aber die Welt noch groß genug, und die Menschen nicht auf den Grad sorgfältig, bedürfnisvoll und tätig, um sich gleich aller ihrer Umgebungen zu bemächtigen. Zwischen jenen Besitzungen erstreckten sich große Räume, in welchen weidende Züge sich bequem hin und her bewegen konnten. In solchen Räumen hält sich Abraham auf, sein Bruder Lot ist bei ihm; aber sie können nicht lange an solchen Orten verbleiben. Eben jene Verfassung des Landes, dessen Bevölkerung bald zu- bald abnimmt, und dessen Erzeugnisse sich niemals mit dem Bedürfnis im Gleichgewicht erhalten, bringt unversehens eine Hungersnot hervor, und der Eingewanderte leidet mit dem Einheimischen, dem er durch seine zufällige Gegenwart die eigne Nahrung verkümmert hat. Die beiden chaldäischen Brüder ziehen nach Ägypten, und so ist uns der Schauplatz vorgezeichnet, auf dem einige tausend Jahre die bedeutendsten Begebenheiten der Welt vorgehen sollten. Vom Tigris zum Euphrat, vom Euphrat zum Nil sehen wir die Erde bevölkert, und in diesem Raume einen bekannten, den Göttern geliebten, uns schon wert gewordnen Mann mit Herden und Gütern hin und wider ziehen und sie in kurzer Zeit aufs reichlichste vermehren. Die Brüder kommen zurück; allein gewitzigt durch die ausgestandene Not, fassen sie den Entschluß, sich von einander zu trennen. Beide verweilen zwar im mittägigen Kanaan; aber indem Abraham zu Hebron gegen den Hain Mamre bleibt, zieht sich Lot nach dem Tale Siddim, das, wenn unsere Einbildungskraft kühn genug ist, dem Jordan einen unterirdischen Ausfluß zu geben, um an der Stelle des gegenwärtigen Asphaltsees einen trocknen Boden zu gewinnen, uns als ein zweites Paradies erscheinen kann und muß; um so mehr, weil die Bewohner und Umwohner desselben, als Weichlinge und Frevler berüchtigt, uns dadurch auf ein bequemes und üppiges Leben schließen lassen. Lot wohnt unter ihnen, jedoch abgesondert.
Aber Hebron und der Hain Mamre erscheinen uns als die wichtige Stätte, wo der Herr mit Abraham spricht und ihm alles Land verheißt, so weit sein Blick nur in vier Weltgegenden reichen mag. Aus diesen stillen Bezirken, von diesen Hirtenvölkern, die mit den Himmlischen umgehen dürfen, sie als Gäste bewirten und manche Zwiesprache mit ihnen halten, werden wir genötigt den Blick abermals gegen Osten zu wenden, und an die Verfassung der Nebenwelt zu denken, die im ganzen wohl der einzelnen Verfassung von Kanaan gleichen mochte.
Familien halten zusammen; sie vereinigen sich, und die Lebensart der Stämme wird durch das Lokal bestimmt, das sie sich zugeeignet haben oder zueignen. Auf den Gebirgen, die ihr Wasser nach dem Tigris hinuntersenden, finden wir kriegerische Völker, die schon sehr frühe auf jene Welteroberer und Weltbeherrscher hindeuten, und in einem für jene Zeiten ungeheuren Feldzug uns ein Vorspiel künftiger Großtaten geben. Kedor Laomor, König von Elam, wirkt schon mächtig auf Verbündete. Er herrscht lange Zeit: denn schon zwölf Jahre vor Abrahams Ankunft in Kanaan hatte er bis an den Jordan die Völker zinsbar gemacht. Sie waren endlich abgefallen, und die Verbündeten rüsten sich zum Kriege. Wir finden sie unvermutet auf einem Wege, auf dem wahrscheinlich auch Abraham nach Kanaan gelangte. Die Völker an der linken und untern Seite des Jordan werden bezwungen. Kedor Laomor richtet seinen Zug südwärts nach den Völkern der Wüste, sodann sich nordwärts wendend schlägt er die Amalekiter, und als er auch die Amoriter überwunden, gelangt er nach Kanaan, überfällt die Könige des Tals Siddim, schlägt und zerstreut sie, und zieht mit großer Beute den Jordan aufwärts, um seinen Siegerzug bis gegen den Libanon auszudehnen.
Unter den Gefangenen, Beraubten, mit