Tante Lisbeth. Honore de Balzac
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Er ist der Herr. Er könnte mir alles nehmen. Aber er läßt mir meine Brillanten. Er ist ein Gott! So dachte diese Frau, die sicherlich mit ihrer Sanftmut mehr erreicht hatte als eine andere durch Zorn und Eifersucht.
Der Menschenkenner weiß, daß wohlerzogene, aber lasterhafte Menschen gewöhnlich viel liebenswürdiger sind als Tugendbolde. Da sie immer ein schlechtes Gewissen haben, so nehmen sie gleichsam einen Vorschuß auf die Nachsicht der andern; sie sind gegen die Fehler ihrer Richter duldsam, und so gelten sie für prächtige Menschen. Natürlich gibt es auch unter den Tugendsamen reizende Leute; aber meist dünkt sich die Tugend an sich schon vollkommen genug und spart sich jeden Aufwand von Liebenswürdigkeit. Übrigens sind alle tugendhaften Leute – von den Heuchlern spreche ich hier nicht – ein wenig argwöhnisch; sie kommen sich auf dem großen Markte des Lebens gleichsam übervorteilt vor und machen gern spitze Bemerkungen nach der Art der unverstandenen Seelen.
Der Baron, der sich den Ruin seiner Familie vorzuwerfen hatte, nahm seine Zuflucht zu all den reichen Hilfsquellen seines Geistes und seiner verführerischen Urbanität gegenüber seiner Frau, den Kindern und der Tante Lisbeth. Als er seinen Sohn und Cölestine mit dem kleinen Hulot kommen sah, überschüttete er seine Schwiegertochter mit den artigsten Schmeicheleien. Daran war die eitle Cölestine nicht sonderlich gewöhnt; sie war zwar ein reiches, aber höchst unbedeutendes Wesen von recht alltäglichem Aussehen. Der Großvater nahm den kleinen Kerl, küßte ihn und fand ihn süß und entzückend. Er unterhielt sich mit ihm in der Kleinkindersprache und weissagte, daß diese Krabbe einmal größer sein Großvater werden würde; auch seinem Sohne sagte er ein paar angenehme Worte und gab dann das Kind wieder der Kinderfrau, einer dicken Bäuerin aus der Normandie. Cölestine wechselte mit der Baronin einen Blick, der deutlich ausdrückte: Was für ein herrlicher Mensch! Es war klar, daß ihn Cölestine fortan gegen ihres eigenen Vaters Angriffe in Schutz nahm.
Nachdem der Baron den liebenswürdigen Schwiegervater und den gemütlichen Großpapa gespielt hatte, ging er mit seinem Sohn in den Garten, wo er ihm in einigen erfahrungsreichen Bemerkungen vor Augen führte, wie man sich in der Kammer in einem so schwierigen Fall, wie zum Beispiel dem von heute morgen, verhalten müsse. Der junge Anwalt bewunderte seines Vaters Scharfblick und war von seinem kameradschaftlichen Ton gerührt, besonders aber von der sichtlichen Achtung, mit der er ihn wie seinesgleichen behandelte. Hulot der Jüngere war einer der jungen Männer, wie sie die Revolution von 1830 hervorgebracht hat: den Kopf voll Politik, erfüllt von seinen Plänen und Hoffnungen, die er hinter der Maske der Würde verbarg, und sehr eifersüchtig auf alle bereits Berühmten. Er warf mit Phrasen um sich, aber nicht mit den blitzenden Bonmonts, den Brillanten der französischen Plauderkunst. Seine Haltung war gut, aber von einer steifen Zurückhaltung, die Vornehmheit ausdrücken sollte. Solche Leute sind wie wandelnde Mumien, in denen ein Franzose der guten alten Zeit einbalsamiert liegt. Manchmal regt sich der alte Gallier wieder und möchte die englische Tünche abwerfen, aber die Eitelkeit duckt ihn immer wieder, bis er zu guter Letzt gottergeben seinen Geist aufgibt. Solche wandelnden Mumien stecken immer in tadellosen schwarzen Röcken.
»Ah, da kommt mein Bruder!« sagte der Baron und eilte zur Tür des Salons, ihm entgegen.
Nachdem Hektor den wahrscheinlichen Nachfolger des eben verstorbenen Marschalls Montcornet umarmt hatte, führte er ihn herein, wobei er ihm mit sichtlicher Liebe und Verehrung den Arm reichte. Dieser Pair von Frankreich, den die Taubheit vom Besuch der Sitzungen abhielt, hatte einen herrlichen Kopf mit vom Alter gebleichtem Haar, das aber immer noch voll genug war, um da, wo der Hut gesessen hatte, einen Eindruck zu zeigen. Klein, untersetzt und mager, trug der Graf ein frisches Greisentum fröhlich zur Schau. Im Besitz einer außergewöhnlichen geistigen Regsamkeit, die sich ungern zur Ruhe verurteilt sah, vertrieb er sich die Zeit mit Lesen und Spazierengehen. In seinem blassen Gesicht, seiner edlen Haltung, seiner Natürlichkeit beim Sprechen – wobei er sehr witzig sein konnte – spiegelte sich seine innere Feinheit. Nie erzählte er vom Krieg und den Feldzügen, die er mitgemacht hatte; er war zu sehr wirklicher Held, als daß er mit dem Heldentum paradiert hätte. Im Salon sah er seine ständige Aufgabe darin, die leisesten Wünsche der Frauen zu erfüllen.
»Ihr seid alle so lustig!« meinte er, als er die gute Laune bemerkte, die der Baron in diesem kleinen Familienkreis hervorgerufen hatte, »... obgleich aus Hortenses Heirat nichts geworden ist«, setzte er hinzu, als er auf dem Gesicht der Schwägerin einen Schatten von Trauer wahrnahm.
»Das kommt immer noch früh genug«, rief ihm Tante Lisbeth mit Donnerstimme ins Ohr.
»Ach, da bist du ja auch, du Baum, der keine Früchte tragen wollte!« meinte er lachend.
Der Held von Pforzheim mochte Lisbeth gern, weil sie sich beide in manchem ähnlich waren. Auch er war aus dem Volke hervorgegangen, hatte keine besondere Erziehung genossen und verdankte sein Soldatenglück einzig seinem persönlichen Mute, und der gesunde Menschenverstand ersetzte bei ihm den geistigen Drill. Mit reinen Händen und ruhmgekrönt feierte er den Abend eines schönen Lebens im Kreise einer Familie, der alle seine Liebe gehörte, ohne daß er seines Bruders Irrungen und Wirrungen ahnte. Keiner genoß wie er das schöne Schauspiel dieser Einigkeit, wo nie der geringste Streit ausbrach, wo sich alle wie Brüder und Schwestern liebten; auch Cölestine war sofort als zur Familie gehörig betrachtet worden. So erkundigte sich denn der biedere Graf mehrere Male, warum Vater Crevel nicht käme.
»Mein Vater ist auf dem Lande«, rief ihm Cölestine zu. Man berichtete ihm, Crevel sei verreist.
Diese schöne Familieneintracht stimmte Frau Hulot nachdenklich: Das ist doch mein sicherstes Glück! Wer könnte mir das rauben?
Als der General sah, wie seinem Liebling Adeline von ihrem Manne der Hof gemacht wurde, neckte er den Baron, so daß dieser aus Furcht vor der Lächerlichkeit seine Galanterie von neuem seiner Schwiegertochter zuwandte, die bei diesen Familienmahlzeiten immer den Gegenstand seiner Schmeicheleien und Aufmerksamkeiten bildete. Durch sie hoffte er nämlich den Vater Crevel umzustimmen und ihn von seinem Hasse abzubringen.
Schwerlich konnte man beim Anblick dieses Familienbildes glauben, daß der Vater vor dem Ruin stand, daß die Mutter in Verzweiflung war, daß der Sohn in größter Besorgnis um seines Vaters Zukunft schwebte und daß die Tochter im Begriffe war, ihrer Tante den Geliebten abspenstig zu machen.
Um sieben Uhr, als er seinen Bruder, seinen Sohn, die Baronin und Hortense am Whisttische sah, ging der Baron fort, um seine Geliebte in der Oper zu bewundern, und nahm Tante Lisbeth, die in der Rue du Doyenné wohnte, mit in seine Droschke. Unter dem Vorwande, daß es in ihrer Gegend so einsam sei, pflegte sich Lisbeth stets sofort nach dem Essen zu empfehlen. Diese Maßregel des alten Fräuleins war sehr vernünftig.
Daß das alte Häuserviertel längs des Louvre noch immer besteht, ist einer der Widersprüche gegen den gesunden Menschenverstand, die sich die Franzosen so gerne leisten, damit sich Europa zu seiner Beruhigung überzeugen kann, daß der Fortschritt nicht so schlimm ist, wie er aussieht. Vielleicht verfolgt man damit unbewußt eine große politische Idee. Sicherlich ist es aber keine überflüssige Arbeit, diesen Winkel des modernen Paris zu beschreiben; denn später wird man sich so etwas gar nicht mehr vorstellen können. Unsere Enkel, die zweifellos das Louvre vollendet sehen, werden nicht glauben wollen, daß es so lange in der schändlichsten Umgebung gestanden hat, im Herzen von Paris, dieser Palast, in dem drei Dynastien in einem Zeiträume von sechsunddreißig Jahren die Blüte Frankreichs und Europas empfangen haben.
Von dem Portal aus, das nach dem Pont du Carrousel und der Rue de Musée führt, fällt einem ein Dutzend Häuser mit zerfallenen Vorderseiten auf, die von den unbekümmerten Besitzern nicht mehr ausgebessert werden. Man steht vor den Überbleibseln eines alten Viertels, das zerstört wurde, als Napoleon den Plan faßte, das Louvre zu vollenden. Die Rue