Heil mich, wenn du kannst. Melanie Weber-Tilse
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Jonathan trug sie hinauf ins Flugzeug. Dort warteten der Pilot und eine Flugbegleiterin.
»Ms. Thompson, Mr. Briggs, herzlich willkommen. Ich bin Captain Hollor und wünsche Ihnen einen angenehmen Flug. Sollten Sie etwas benötigen, wenden Sie sich vertrauensvoll an Mrs. Terence, unsere Stewardess.«
Professionell wurden sie vom Piloten und Mrs. Terence in Empfang genommen und während Jonathan mit ihnen lockere Konversation betrieb, drehte sie ihren Kopf weg, hin zu seinem Hals. Der vertraute Duft, der sie in den letzten Wochen immer wieder begleitet hatte, stieg ihr in die Nase und sie schloss die Augen. Wie oft hatte sie, wenn sie meinte, alles um sie herum erdrückte sie, die Augen geschlossen, sich an diesen Geruch geklammert und alles andere ausgeblendet.
Ihr Therapeut hatte sie einmal gefragt, wie sie es fertigbrachte, allen Angstzuständen, die unweigerlich in ihrer Situation auftraten, Herr zu werden. Sie war ihm immer eine Antwort schuldig geblieben, denn wie sie es tatsächlich schaffte, würde sie nie jemanden anvertrauen.
Als Jon sie sanft auf den Sitz herabließ, öffnete sie die Augen und sah seinen besorgten Blick. Sie ahnte, dass er es nicht einfach mit ihr hatte. Vier Jahre hatte er genauso gehofft und gebangt wie alle an ihrer Seite, und dann war sie endlich wach und weit entfernt davon, eine einfache Patientin zu sein.
Wieder versuchten die negativen Gedanken, sie aufzufressen, doch als ob er es merkte, setzte er sich neben sie, schaltete den Bildschirm vor ihnen an und zeigte ihr die Aufnahmen vom Zentrum, zu dem sie unterwegs waren. Auch wenn es nur ein blöder Werbefilm war, war es Balsam für ihre geschundene Seele.
Der Flug, vor dem sie ein wenig Angst gehabt hatte, gestaltete sich sehr angenehm. Nicht zuletzt aufgrund von Mrs. Terence, der netten Stewardess. Dennoch schwieg sie die ganze Zeit. Man hatte ihr erzählt, dass sie eine lebenslustige und fröhliche Frau gewesen war. Und nun saß sie hier und traute sich kaum den Mund aufzumachen. Was hatte der Therapeut dazu gesagt? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Aber das war auch egal. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie je wieder zu der Frau wurde, die sie einst war.
In Thompsons Retreat hatte sich keinerlei Erinnerung eingestellt. Dabei wusste sie, dass sich Michael so viel davon versprochen hatte, als er sie nach Hause holte. Ihr Bruder war enttäuscht. Vielleicht war dies zusätzlicher Druck gewesen, durch den sie sich immer mehr zurückgezogen hatte.
»Schau, dort unten«, riss Jonathans Stimme sie aus ihrem Grübeln. Er zeigte mit der Hand aus dem kleinen Fenster.
Sie befanden sich im Landeanflug und man sah die Landzunge, die direkt in den Atlantik mündete. Sie meinte, das Rauschen bis hier oben zu hören, und das Glitzern auf der Wasseroberfläche tat in den Augen weh. Als sie von New York gestartet waren, herrschte dort entsprechendes Februarwetter mit sieben Grad und Nieselregen. Laut der Informationsanzeige auf dem Bildschirm herrschte hier ein mildes Klima von 24 Grad und die Sonne lachte einem entgegen.
Als das Flugzeug mit leichtem Ruckeln aufsetzte und der Druck in den Ohren nachließ, spürte sie schon fast die Wärme auf ihrem Arm, als die Sonne durch das Fenster strahlte. Nachdem die Maschine ausgerollt und in ihrer Parkposition stand, schnallte Jon sie ab und bevor er sie hochhob, fragte er mit einem Augenzwinkern: »Bereit für das nächste Abenteuer, Anna?«, setzte ihr den Sonnenhut auf und schob ihr die Sonnenbrille auf die Nase.
Sie nickte statt einer Antwort. Seine starken Arme hoben sie hoch und am Eingang warteten Captain Hollor und Mrs. Terence. Der Abschied fiel kurz aus und doch verspürte sie einen inneren Drang, sich zu bedanken. Als die Worte »vielen Dank, der Flug war sehr angenehm», ihren Mund verließen, spürte sie, dass Jonathan leicht zusammenzuckte. Ansonsten ließ er sich nichts anmerken und als die Tür sich öffnete, die Wärme und der Geruch des nahen Meeres ihr entgegenschlugen, vergaß sie seine Reaktion wieder.
Während Jon sie die Treppe heruntertrug, wärmten die Sonnenstrahlen ihre Haut und wie bei einem Akku wurden auch ihre Zellen aufgeladen. Viel zu schnell kamen sie bei dem wartenden Wagen an und Jonathan verfrachtete sie auf den Rücksitz. Die Scheiben waren abgedunkelt und kühle Luft empfing sie. Fast schon enttäuscht wartete sie im Inneren, bis das Gepäck verstaut war, Jon sich neben sie setzte und der Fahrer sie zur genannten Adresse fuhr.
Hatte sie die Aussicht im tristen New York nicht beachtet, so konnte sie hier kaum den Blick von all dem Gebotenen abwenden. Palmen säumten die Straße und durch die dunklen Scheiben wirkten sie leicht bläulich. Mit großer Anstrengung hob sie den Arm an und legte die Finger auf den Fensterheber. Doch so sehr sie auch versuchte, ihn zu bedienen, es wollte nicht klappen, sie konnte nicht fest genug drücken. Jons Hand legte sich helfend auf ihre und kurz danach summte das Fenster herunter. Sofort fuhr ihr der Fahrtwind durch die braunen schulterlangen Haare und zerzauste sie. Noch nicht einmal so etwas Einfaches wie die Scheibe alleine herunterzubekommen, schaffte sie. Um Jon nicht zu zeigen, wie sehr sie das frustrierte, schloss sie die Augen und hielt ihr Gesicht in den Wind. Die Sonne erwärmte dieses, und langsam beruhigte sie sich wieder. Annabel spürte selbst, wie sich ein Lächeln auf ihre Miene stahl.
»Wir sind gleich da.« Jonathans Stimme klang genauso entspannt, wie sie sich fühlte.
Ihr Blick wanderte nach vorn und sie war froh, dass sie nun doch schon einige Körperteile bewegen konnte. Egal ob es noch schwerfällig war, aber sie merkte mittlerweile selbst, wie sehr sich die Übungen lohnten.
Sie fuhren durch einen Torbogen, auf dem ein großes Schild angebracht war. Auf diesem sah man einen Delfin, der mit einem lachenden Kind schwamm. Der Weg schlängelte sich zwischen Palmen zu einem blau gestrichenen Holzhaus hindurch. Der Wagen stoppte, Jonathan stieg aus und war in nicht mal fünf Minuten an ihrer Seite und hatte den Rollstuhl bereitgestellt.
Er legte sich ihren Arm um den Hals, hob sie aus dem Auto und setzte sie sacht in den fahrbaren Untersatz. Nachdem er alles gerichtet hatte, kam ihnen auch schon eine korpulente, über das ganze Gesicht strahlende Frau entgegen.
»Herzlich willkommen im Delfin-Therapiezentrum. Ich bin Jessica und ab sofort für euch, aber vor allen Dingen für dich, Schätzchen, zuständig. Und damit meine ich dich, Annabell, nicht das heiße Gerät hinter deinem Rollstuhl.« Jessy lachte laut, hielt ihr die Hand hin und griff fest zu, als Anna die Hand hochgehoben hatte. »Super, die Hand kannst du ja schon gut anheben. Den Rest, Sweetheart, bekommen wir mit dem Programm, das wir dir hier bieten, auch noch hin. Glaub mir, wenn du uns verlässt, kannst du wieder Walzer und Tango tanzen und alle Männer werden dir zu Füßen liegen.«
Annabell riss die Augen auf und ihr lag eine schnippische Bemerkung auf der Zunge. Was bildete sich die ... verdammte Schnepfe eigentlich ein? Diese Jessy schien sich in keiner Weise von ihrem bitterbösen Blick beeindrucken zu lassen und ehe sie es sich versah, hatte sie schon bissig geantwortet: »Normales laufen und ein einziger Mann würde mir reichen. Ich bin gespannt, ob du das hinbekommst.« Jessys Lachen wurde noch lauter, als auch noch ein Husten in ihrem Rücken erklang.
Jonathan
Es schien ihm, als wäre mit dem Wechsel von Örtlichkeit und der gestiegenen Temperatur ein Stück weit Leben in Annabell zurückgekehrt. Schon auf dem Weg aus dem Flugzeug heraus glänzten ihre Augen auf eine Art, die er noch nie an ihr gesehen hatte.
Die Fahrt verlief entspannt, und als sie im Zentrum angekommen waren, hatte Anna sogar zum ersten Mal eine echte Regung gezeigt gegenüber Jessy, der kräftigen, aber herzensguten Therapeutin, die den beiden in den folgenden Wochen zur Seite stehen würde. Sie hatte zwar gezickt,