Dog Soldiers. Thomas GAST
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Robbles, ein renommierter Zirkusdirektor, wurde auf mich aufmerksam und nahm mich fortan unter seine Fuchtel. Er hatte ziemlich rasch erkannt, dass das Diebshandwerk bei weitem nicht meine brillanteste Gabe war. Ich hatte das Talent, ein großartiger Artist und Seiltänzer zu werden! Robbles’ Etablissement nannte sich das Théâtre du Merveilleux und es zog die Massen an wie frischer Kot grün schillernde Mistfliegen. Ein treffenderer Vergleich fällt mir nicht ein. Die Menschen kamen herbeigeströmt, weil Robbles ihnen das bot, was sie zu jener Zeit brauchten, ob arm oder reich: Träume und etwas Licht im Schatten des grauen Alltags. Die ganze Truppe war ein Kunterbunt aus Akrobaten, Tänzern, Clowns, Jongleuren und Tierbändigern, aber außerhalb der Zirkuskuppel gab es auch Schießwägen und Schaukeln und natürlich Stände mit allerlei kulinarischen Verköstigungen. Zuckerwatte, kandierte Äpfel, gebrannte Mandeln, gegrillte Makrelen, Orgelmusik und ich erspare mir den ganzen Rest. Die Zeit mit Robbles und seiner Traumfabrik war jedoch nur begrenzt, denn der gute Mann verschwand eines Tages mit den Einnahmen eines ganzen Jahres, und es gab niemanden, der sich zutraute das Ruder in die Hand zu nehmen. Überdies drohte uns allen das Zuchthaus, weil unser Freund auch vergessen hatte, die anfallenden Steuern zu zahlen, und so zerstreute sich die Truppe innerhalb recht kurzer Zeit in alle Winde, wobei jeder mitnahm, an was er Hand legen konnte. Einzig eine kleine Gruppe mit mir an ihrer Spitze blieb nach der Trennung zusammen. Wir wollten wegen Robbles’ krummer Geschäfte unsere Talente und vor allem unsere Freundschaft nicht einfach in den Wind schießen, und so formierten wir uns unter dem Namen Cirque Du Rêve in einem anderen Stadtteil neu. Irgendwann gesellten sich dann langsam andere Künstler zu uns, und aus einem anfänglichen Viermannspektakel formte sich ein Ensemble, das von der Anzahl seiner Mitglieder und von seiner Vielfältigkeit her diesen Namen auch verdiente: Zirkus der Träume!
Der Erfolg jedoch blieb aus. Es schien gar, als hätte Robbles uns mit einem Fluch belegt, kurz bevor er verschwand. Eines Tages fiel mir dann dieses Buch mit dem Titel The Far West in die Hände. Ich las es an einem Tag und ohne dass ich mich daran erinnern konnte, es auch nur ein einziges Mal länger als eine Minute weggelegt zu haben, und während des Lesens hatte ich urplötzlich eine Idee, die mich nicht mehr losließ.
Und so hatte alles begonnen ... mit einer verwegenen Idee!
Paris, November 1859, einen Monat später
Seit Stunden regnete es ohne Unterlass. Der Wind fauchte wie ein Ungetüm, fuhr in und durch alle Ritzen und legte offen dar, wie unzulänglich wir nach dem letzten Herbststurm die Kuppel und die schrägen, einsam im Wind vor sich hin flatternden Seitenwände des Zeltes ausgebessert hatten. Wir, damit meinte ich Phillip de la Tour und seine Frau Margaret, beide wie ich Hochseilartisten. Dann waren da natürlich Julius Wegener, unser Clown, Mary und Jo Ann, zwei Schwestern aus Schweden, die ohne Ausnahme alle Männer verrückt machten, wenn sie ihre Röcke durch die Luft wirbelten und man ihre nackten Schenkel bewundern konnte. Kenneth, unser Messerwerfer, und Paul Bailey, ein Ire, der von Bordeaux aus zu uns gestoßen war, gehörten ebenfalls dazu, und dann natürlich Carmen, meine über alles geliebte Carmen.
»Die Niagarafälle? Das ist Selbstmord!«
Phillip saß auf einem vom Regen feuchten Strohballen und rauchte.
Wir anderen tranken heißen Kaffee mit einer Spur Cognac darin. Es war kalt. Der Atem wurde zu Eiskristall, sobald er die Lungen verließ, unsere Finger waren klamm und blau, unsere Nasenspitzen rot und mit feinen Adern durchzogen. In den Augen der anderen bemerkte ich ein seltsames Glänzen, das ich nicht nur mit dem Alkohol in Verbindung bringen wollte.
Hatte es vielleicht mit meinen verwegenen Plänen zu tun?
»Irgendwann wird es jemand wagen, und dieser Jemand wird reich und berühmt werden!«, hielt ich dagegen.
Phillip sah mich aus müden Augen an. Er kannte meine Ambitionen und wusste, dass meine Worte hauptsächlich an Carmen gerichtet waren, die einige Schritte weiter entfernt den Kopf gehoben hatte und unser Gespräch höchst aufmerksam verfolgte.
Sie sah mich an, wurde rot und sah schnell wieder weg.
Plötzlich war Phillip hellwach. Ihm war wohl der Ernst in meiner Stimme erst jetzt aufgefallen.
»Ich kenne da aber jemanden, der angeblich schon mal dort war«, sagte er aufgeregt.
»Am Grand Canyon?«, fragte ich sprachlos und mein Herz schlug Stakkato.
Er blinzelte leicht irritiert.
Ein kurzer Seitenblick verriet mir, dass, der Kälte zum Trotz, fast alle dem Thema nun ihre vollste Aufmerksamkeit gewidmet hatten, und das war schon mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.
»Nein, nein, nicht am Grand Canyon«, sagte Phillip. »Wir sprachen doch von den Niagarafällen!«
Auch er erhob sich. Sein mahnender Blick wirkte ernüchternd auf mich, berührte jedoch einen Stachel, der sehr tief saß.
»Dieser Jemand«, fragte ich aufgewühlt. »Könnte er uns hinführen?«
»Zu den Niagarafällen? Die Reise würde Monate dauern! Außerdem«, so fuhr er etwas ernüchtert fort, »ist der Mann, von dem ich spreche, weit über neunzig, bettlägerig und halb blind. Leider, und das ist wohl das Schlimmste an der Sache, spielt ihm seit kurzem auch sein Gedächtnis ab und zu einen Streich. Wenn ich es mir jetzt so richtig überlege, denke ich, ich hätte ganz einfach meinen Mund halten sollen. Also lasst uns die Sache einfach vergessen und …«
»Und was?«, unterbrach ich ihn entrüstet. Nichts hielt mich mehr auf dem Strohballen, der meinem Hintern eh nur Frostbeulen bescherte. »Sollen wir warten, bis Paris aufwacht und händeringend nach unseren drittklassigen Aufführungen schreit? Sollen wir hier im Dilettantismus versinken, während in der Neuen Welt eine dicke Scheibe vom großen Kuchen auf uns wartet?«
Ich hatte meine Stimme erhoben und sah, wie sich die anderen neugierig näherten. Carmen stand hinter mir, und so konnte ich den entzückten Ausdruck in ihrem Gesicht nur erahnen. Es gab nun kein Zurück mehr. Euphorisch erklärte ich mich.
»Gut! Es müssen nicht gleich die Niagarafälle sein. Aber lasst uns zumindest Spektakel machen, großes Spektakel!«
Ich machte eine weit ausholende Geste, drehte mich langsam um die eigene Achse und blinzelte Carmen zu.
»Hier kennt uns niemand, warum wohl eurer Meinung nach?«
Keiner machte sich die Mühe mir zu antworten. Wie eine Herde Schafe, die es gewohnt war, dass man die Antworten auf Fragen gleich mitlieferte, glotzten sie mich nur abwartend an.
»Herrgott!«, entfuhr es meinen Lippen. Ich war mir dabei der Theatralik des Augenblicks nur allzu sehr bewusst. »Weil es hier Künstlertrupps, wie wir es sind, zu Hunderten gibt. Das Podium ist platt, übersättigt, gelangweilt. Dort aber …«
Ich deutete mit dem Zeigefinger auf die gegenüberliegende nackte Wand, was Sinn machte, denn dort war Westen. »Dort drüben bauen sie neue Städte. Große Städte, und die Männer und Frauen dieser Städte heischen im Stillen nach Abwechslung. In den vorgeschobenen Forts langweilen sich Soldaten zu Tode. Soldaten, Büffeljäger und Trapper verbringen ihre Tage mit Saufen und …«
Kurzatmig hielt ich inne und sah kurz zu Carmen hinüber, bevor ich hitzig fortfuhr.
»Nun ja … Mit Saufen und mit dem nackten Fleisch irgendwelcher