Liebe jenseits von Paarbeziehungen. frieder hentzelt
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Das, was in nicht einmal 100 Jahren geschehen ist, kann durchaus als atemberaubend bezeichnet werden. Es begann mit denen, die anders waren als die Anderen und mündete darin, dass sie eine Liebe haben, wie jede andere. Dabei hieße es, die Bedeutung der Schwulenbewegung deutlich zu überschätzen, wenn man in ihr die einzige oder die wesentliche Triebkraft dieser Entwicklung sehen wollte. Hätte sich in dieser Zeit nicht auch das Verhältnis von Mann und Frau und die Beziehung zwischen beiden an verschiedenen Stellen fundamental verändert, dann wäre auch Liebe zwischen zwei Männern oder zwei Frauen nicht zu einer Liebe wie jeder anderen geworden.
Diesen Veränderungen kann und soll hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Nur zwei Punkte, die unmittelbar ins Auge fallen, sollen im Folgenden beleuchtet werden. Der erste Aspekt bezieht sich auf das Auseinanderfallen von Lust und Fruchtbarkeit, wie es sich durch den Siegeszug der Pille ergeben hat. Der zweite betrifft die Art, wie die Unterschiede zwischen Mann und Frau gesellschaftlich konstruiert werden.
In der Beziehung zwischen Männern an Frauen gab es früher eine untrennbare Verbindung zwischen Lust und Fruchtbarkeit. Jeder Geschlechtsverkehr konnte prinzipiell zu einer Schwangerschaft führen. Der berühmte Ausspruch des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, Kinder kämen ganz von alleine, deutet darauf hin, wie eng bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein diese Verbindung war. Selbstverständlich ging schon damals die Sexualität zwischen Männern und Frauen nicht in der Zeugung auf. Unmittelbare Lust aber auch Erlebnisse von Macht und Unterwerfung spielten immer eine wesentliche Rolle. Ebenso gab es auch immer schon Möglichkeiten, eine Schwangerschaft zu verhindern.
Diese Verhütungsmethoden waren alle nicht wirklich sicher und bedeuteten fast immer, dass ein gewisser Aufwand während oder unmittelbar vor dem Geschlechtsverkehr zu betreiben war. Einen solchen Zusammenhang zwischen Lust und Fruchtbarkeit gab es da, wo nur Männer beteiligt sind, selbstverständlich niemals. Hier stand die Lust immer für sich alleine. Das gilt natürlich auch für Lesben. Da die weibliche Sexualität aber ein ganz eigenes Thema ist, soll hier allein die schwule Perspektive in den Blick genommen werden. Man kann fast sagen, dass sich vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Verknüpfung von Lust und Fruchtbarkeit auch unterschiedliche Sexualitäten mit ihren jeweils eigenen Regeln und Institutionen entwickelt haben. Auf der einen Seite ist das Ideal der lebenslangen sexuelen Exklusivität und die Institution der Ehe entstanden. Auf Seiten der Schwulen wurde die Sexualität geprägt durch eine wesentlich höhere Zahl von Sexualpartnern und Institutionen wie spezielle Kneipen, Darkrooms und Pornokinos, in denen kurzfristige sexuelle Kontakte aufgenommen werden konnten.
Fundamental verändert hat sich diese Situation, da inzwischen auch für Heterosexuelle der unmittelbare Zusammenhang zwischen Lust und Fruchtbarkeit nicht mehr besteht. Mit der Markteinführung der Antibabypille im Jahr 1962 und ihrer inzwischen selbstverständlichen Nutzung wurde für Frauen ihre Fruchtbarkeit zu Etwas, über das sie selbst entscheiden können. Sie sind nur dann fruchtbar, wenn sie es wollen. Dadurch hat sich die Sexualität zwischen Mann und Frau stark der schwulen angeglichen. Dabei ist es auf keinen Fall schon zu einer völligen Gleichgestalt gekommen. Dafür ist die Zeit der Veränderung noch deutlich zu kurz. Aber die Richtung der Entwicklung ist schon deutlich. Das zeigt sich besonders klar auch darin, dass die moralische Beurteilung schwuler Sexualität sehr viel milder geworden ist. Ihre Erscheinung wird nur noch selten von vorneherein als wahllos, hedonistisch oder unverantwortlich bezeichnet, was früher durchaus üblich war.
Das zweite, was in seiner Entwicklung und Veränderung erst die heutige gesellschaftliche Positionierung und Wahrnehmung der schwulen Beziehung möglich gemacht hat, ist die Art der Zuordnung bestimmter Eigenschaften zu den Geschlechtern. Zweifellos gibt es Unterschiede zwischen den Angehörigen der beiden Geschlechter. Man denke etwa an die durchschnittliche Körpergröße oder die sekundären Geschlechtsmerkmale. Es gibt daneben aber auch eine Vielzahl von Untersuchungen, die diverse andere Differenzen zwischen Männern und Frauen zeigen wollen, etwa im Aufbau des Gehirnes, oder auch mit Blick auf unterschiedliche Intelligenzprofile. Über die Überzeugungskraft solcher Untersuchungen kann allerdings trefflich gestritten werden. Was der „kleine Unterschied“ bedeutet, ist alles andere als klar.
Entscheidender als alles, was sich womöglich am Körper finden lässt, ist aber die Rolle, die den Geschlechtern auf gesellschaftlicher Ebene zugeschrieben und zugewiesen wird. Das war einmal sehr eindeutig und wurde kaum infrage gestellt. Männer hatten die Ernährer ihrer Familien zu sein und Frauen hatten sich um Haushalt und Nachwuchs zu kümmern. Beziehungen wurden so gedacht, dass beide Aufgaben klar voneinander getrennt und jeweils einem der beiden Beteiligten zugeschrieben wurden. Auch wenn von feministischer Seite zu Recht noch einige Defizite beklagt werden; es hat sich hier in den letzten Jahrzehnten einiges verändert. Sehr deutlich wird das zum Beispiel an der Rede von der Wahlfreiheit, die Frauen bei der Suche nach dem für sie besten Lebensweg gegeben werden soll. Hier wird nicht mehr davon ausgegangen, dass eine bestimmte Rolle schon allein dadurch vorgegeben ist, dass eine Frau eine Frau ist. Prinzipiell sagt man, dass sie genauso gut eine Position übernehmen kann, die früher allein Männern vorbehalten war. Vielleicht etwas übertrieben sprechen einige Forscher angesichts dieser Entwicklung von einer „Homosexualisierung“ unserer Gesellschaft. Wo sich die Geschlechter immer mehr angleichen, entsteht eine Art Gleichgeschlechtlichkeit.
Mit Blick darauf, wie schwule Beziehungen von der heterosexuellen Umwelt gesehen werden, zeigt sich, dass die oben beschriebene Veränderung nicht ohne Auswirkungen geblieben ist. Die Älteren werden sich noch gut daran erinnern, dass dort, wo die Beziehung zweier Männer von anderen wahrgenommen wurde, sehr schnell die Frage auftauchte, wer von beiden die Frau und wer der Mann in der Beziehung sei. Hier zeigt sich, dass als conditio sine qua non für das Zusammenleben zweier Menschen das Zusammentreffen der beiden Geschlechtsrollen angesehen wurde. Der eine musste „die Hosen anhaben“ während der andere folgsam war und das Schöne im Blick hatte. Gerne wurde das auch mit den verschiedenen Positionen beim Analverkehr verbunden. Wer hier aktiv war, der verhielt sich quasi wie ein richtiger Mann, während der passive Partner die Rolle der Frau übernahm. Männer waren die diejenigen, die penetriert haben. Wer penetriert wurde, war unmännlich.
Die Vorstellung eines Mannes, der eine weibliche Rolle übernimmt, war nicht nur irritierend, sie wurde durchaus als Beleidigung verstanden und verwendet. Der Begriff des effeminierten Mannes war immer, so neutral er auch klingen mochte, negativ konnotiert. Unter den damaligen Umständen wäre der Preis hoch gewesen, wenn schwule Männer eine Beziehung wie jede andere gehabt haben wollten. Durch die Entwicklungen der letzten Dekaden ist er bedeutend geringer geworden. In dem Maße, in dem die Geschlechtsunterschiede nicht mehr als Wesensunterschiede betrachtet werden – in dem Sinne, dass die eine Seite der anderen zu dienen habe und ihr eine andere gesellschaftliche Position zukäme – sondern viel mehr auf der Ebene von Persönlichkeitsunterschieden – in dem Sinne, dass der eine nicht zuhören und die andere nicht einparken könne – können auch Beziehungen unter Männern ohne Irritation oder Beleidigung denkbar werden.
Die oben dargestellten Veränderungen der heterosexuellen Paarbeziehung mit ihren Auswirkungen auf die Beziehung zwischen zwei Männern sind eingebunden in die Entwicklung dessen, was der Psychiater und Existenzanalytiker Viktor E. Frankl die reine Beziehung genannt hat. Das sind für ihn Beziehungen, die alleine um der Beziehung willen existieren. Ihr Zentrum und das, was sie am Leben