Die Baumeisterin. Barbara Goldstein
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Читать онлайн книгу Die Baumeisterin - Barbara Goldstein страница 14
»Kräfte?« Der König hob die Augenbrauen.
»Jeder Stein drückt mit seinem Gewicht auf alle darunter liegenden Quader. Bei dieser flacheren Pyramide werden hundertzwanzig Steinlagen verlegt. Die Kraft wirkt aber nicht senkrecht nach unten, sondern nach außen: Die Pyramide droht zu zerspringen, ja: einzustürzen. Um das zu verhindern, werden die Steinlagen leicht nach innen geneigt verlegt.« Mein Vater sah dem König ins Gesicht, ob er verstanden hatte, doch Seneferus Blick ruhte auf den beiden Skizzen. Dann fuhr er fort: »In der steileren Pyramide sind wesentlich mehr Steinquader verbaut. Solch eine hohe Pyramide hat mehr als hundertzwanzig Steinlagen – vielleicht hundertfünfzig oder noch mehr. Das bedeutet, dass der Druck auf alle darunter liegenden Steine viel höher ist als bei der Pyramide mit dem flacheren Neigungswinkel. Bei der gewünschten Neigung wird der Druck die Steine an der Peripherie regelrecht aus der Pyramide herausschleudern. Die Verschalung wird nicht halten, und die Pyramide wird einstürzen. Vermutlich wird nur der Zentralkern stehen bleiben.«
»Das ist Unsinn! Meinen Berechnungen zufolge hält die Pyramide den Druck von vier zu eins leicht aus«, warf Prinz Nefermaat ein. »Ich bitte Euch, Majestät! Kamose scheint keine Ahnung zu haben.«
Der König blickte vom Plan auf und sah von einem zu anderen. »Nur einer von euch beiden kann Recht haben. Wird die Pyramide bei diesem Neigungswinkel einstürzen oder nicht?«
»Sie wird«, antwortete mein Vater und sah den König dabei an.
»Sie wird nicht«, tobte Prinz Nefermaat.
»Ich befehle, dass ihr beide eure Berechnungen unabhängig voneinander durchführt und mir morgen in der Residenz vorlegt.«
Prinz Nefermaat verbeugte sich vor seinem Bruder, und mein Vater warf sich in den Staub.
Der Netjer begab sich zum Ausgang des Zeltes. »Ich bin sehr zufrieden mit dem Baufortschritt, Kamose. Ich bestätige dich in deinem Amt des Königlichen Bauleiters.« Damit verließ er das Zelt.
Als Prinz Nefermaat an meinem Vater vorbeiging, fauchte er: »Widersprich mir nie wieder, Kamose! Oder deine Karriere ist beendet!«
Wie sollte der Wesir denn ahnen, dass sie gerade erst begonnen hatte?
1
Aperire beschloss, die Täuschung erst einmal fortzusetzen, zumindest bis zum nächsten Tag. Rein rechtlich war Kamose nun Königlicher Bauleiter der Baustelle von Pihuni, denn wer sollte es wagen, den Befehl des Königs anzuzweifeln?
Ich las meinem Vater die Formeln vor, die Api zur Berechnung der Statik der Pyramide benutzt hatte. Mein Vater konnte weder lesen noch schreiben und stellte die meisten Berechnungen im Kopf an. Ich brachte sie zu Papyrus. Als wir fertig waren, begann ich mit der zeichnerischen Umsetzung der neuen Baupläne in einem Winkel von dreieinhalb zu eins. Mit diesem Neigungswinkel sei die Pyramide noch stabil, erläuterte mir mein Vater.
Kamose wich nicht von meiner Seite, während ich die Pläne zeichnete. Er hatte nun die Verantwortung für die Baustelle übernommen. Noch bevor der Mondgott in dieser Nacht den Horizont berührte, war der Bauplan für die neue Pyramide fertig.
Völlig verschwitzt kamen wir am nächsten Morgen in Pihuni an. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich auf einem Esel geritten: Ein herrliches Vergnügen!
Die Hauptstadt lag inmitten eines Palmenhaines an einem großen Oasensee.
Wie in Mempi bogen sich die Tische der Händler unter der Last der dargebotenen Früchte. Melonen, Zitronen, Granatäpfel und Weintrauben lagen neben wahren Bergen von Zwiebeln, Gurken und Salatköpfen. Die Stände der Bäcker quollen über von Broten aus Weizen und Gerste und von Honigkuchen. Ich sah Affen und Hunde, die als Haustiere verkauft wurden. Fasziniert starrte ich auf die Schmuckgegenstände aus Gold und dem kostbareren Silber, mit Türkisen aus dem Sinai und Lapislazuli aus dem Zweistromland.
Der Duft der Garküchen in den Straßen von Pihuni war überwältigend: Es roch nach Gänsebraten, gegrillten Enten und gekochtem Rindfleisch. An einem Stand nur wenige Schritte entfernt wurde Feigenmus angeboten, an einem anderen Bienenhonig. Welche Köstlichkeiten!
Als Re im Zenit stand, meldeten wir uns bei der Palastwache.
Der Königspalast war ein großer Gebäudekomplex am Rande der Stadt. Durch ein von Türmen flankiertes Tor betraten wir den großen Hof mit den Kriegerhäusern der Palastwache und der Kommandantur. Durch ein zweites Tor gelangten wir in den Palast des Königs, das Haus der Verehrung, wo der Göttliche mit seiner Familie wohnte. Nur wenige Schritte entfernt ragte der Palast des Wesirs auf, das Ministerium für fremdländische Angelegenheiten, flankiert von etlichen Schreiberbüros und einem Archiv.
Durch prachtvolle Gänge wurden mein Vater und ich in einen Wartesaal geführt. Die herrlichen Wandgemälde des Saales zeigten den König beim Opfer vor den Göttern Isis und Osiris, Horus und Maat, Amun und Re. Den neuen Gott Atum konnte ich nirgendwo entdecken. Auf der gegenüberliegenden Wand erkannte ich den König als siegreichen Feldherrn, der über die Feinde von Kemet triumphiert.
Am späten Nachmittag verkündete ein Schreiber: »Seine Göttlichkeit empfängt heute nicht mehr. Kommt morgen wieder.«
Die Wartenden erhoben sich und verließen schweigend den Saal.
Ich ging zum Schreiber hinüber.
»Ihr könnt gehen. Seine Majestät empfängt heute nicht mehr«, wiederholte er.
»Der König erwartet uns. Er hat uns gebeten, heute hier zu erscheinen und ihm die Pläne zu zeigen.«
»Seine Majestät bittet nicht, er befiehlt! Welche Pläne?«
»Der Königliche Bauleiter Kamose soll dem König die neuen Pläne für die Pyramide zeigen und die neuen Berechnungen vorlegen.«
Der Sekretär sah mich erstaunt an, und ich hielt seinem Blick stand. Dann durchsuchte er eine Liste mit angemeldeten Besuchern. »Hier steht: Bauleiter Kamose aus Tis. Wer bist du?«
»Seine Tochter.«
»Du kannst nicht mit hinein. Du musst hier warten.«
Die Sonne war schon lange untergegangen, als mein Vater in das Audienzzimmer geführt wurde.
Ich blieb allein zurück und beobachtete, wie der Schreiber seine Schreibbinsen zusammenpackte und die Schale mit den getrockneten und in Honig eingelegten Zitronenscheiben, von denen er während des Nachmittags immer wieder etwas stibitzt hatte, unter sein Schreibpult schob. Seine täglichen Pflichten als Staatsbeamter schienen erfüllt. Ab und zu warf er mir einen irritierten Blick zu, als hielte ich ihn davon ab, in sein Haus zurückzukehren.
Mein Vater blieb sehr lange fort, und ich wurde immer unruhiger. Was war denn bloß geschehen?
Sobald der Sekretär seinen Platz verließ, schlich ich mich bis zur hohen Tür aus Ebenholz, um daran zu lauschen.
Stille.