Streiten verbindet. Rudolf Hopmann
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Sie kennen vielleicht die alttestamentliche Josefsgeschichte: Josef war der Lieblingssohn des Jakob und erfuhr eine sehr starke Bevorzugung gegenüber seinen (elf) Brüdern bis zu dem Punkt, daß er nicht einmal arbeiten brauchte; wahrlich, für die damalige Zeit ein außerordentliches Privileg. Das schürte der Brüder Eifersucht und Haß auf Josef. Sie beschlossen, ihm bei günstiger Gelegenheit das Leben zu nehmen. Ruben, der Älteste, vermochte sie aber von dieser Blutschande abzuhalten, so daß sie Josef in eine Zisterne warfen. Als Ruben einmal weggegangen war, verkauften die anderen Brüder Josef an eine vorbeikommende Karawane. So gelangte Josef schließlich nach Ägypten.
Vordergründig handelt es sich um einen Intragruppenkonflikt der sozioemotionellen Dimension zwischen den Brüdern. Wie hätte aber der Konflikt gelöst werden können? Doch nur, indem Jakob seine Vorzugsbehandlung des Josef aufgegeben hätte. Diese aber beruhte auf der stärksten Sozioemotion, derer Menschen fähig sind, nämlich der Liebe. Die Liebe ist das Schönste auf Erden, kann aber auch zugleich sehr destruktiv sein. Die Liebe der Kinder zu ihrem Vater hinderte die Brüder Josefs daran, ihn als eigentliche Konfliktquelle zu behaften; sie werden gezwungen, den „Stein des Anstoßes" selber aus der Welt zu schaffen. Wen trifft nun die größere Schuld? Konnte Jakob sich wirklich beklagen, als seine Kinder mit Josefs blutverschmierten Kleidern ihm weismachten, Josef sei von einem Tier angefallen worden? Sie hatten ein Geißlein geschlachtet und Josefs Kleider mit dessen Blut besudelt.
Vater Jakob, Ruben, der Älteste, und seine Brüder haben alle ein je unterschiedliches Verhältnis zu Josef. Das überrascht nicht, denn das ist so immer und überall unter Menschen. Sympathie oder Antipathie : Niemand kann erwarten, daß wir alle Menschen „lieben". Das wäre eine völlig falsche Erwartungshaltung. In kinderreichen Familien kommt damit eine schwer zu meisternde Herausforderung auf die Eltern zu, denn sie können kaum eine auf alle Kinder gleichmäßig verteilte Sympathie hegen. Eine derartige Bevorzugung jedoch, wie sie uns in der Josefsgeschichte geschildert wird, ist sicherlich eine für ein Elternpaar nicht unüberwindbare Anforderung, ihre Gefühle so zu kontrollieren, um zu vermeiden, daß keine extreme Ungleichbehandlung der Kinder geschieht. Dies ist auch der Vorteil einer vollständigen Familie: Vater und Mutter können jederzeit im Fall von auftretenden oder sonst wie offenkundigen Unklarheiten und Ungleichheiten ihre Beziehungen zu ihren Kindern metakommunikativ klären. Die griechische Vorsilbe ‚meta’ bedeutet ‚über’, Metakommunikation ist also das Reden über die Kommunikation: Wie reden wir miteinander? (Siehe dazu den Abschnitt weiter unten.)
Eine übermäßige Zuneigung positiver oder negativer Art kann nicht nur zu einem Intragruppenkonflikt führen, sondern oft auch zu schweren Individualkonflikten. In einer Einelternfamilie ist es so, wie es ist. Mit allen Konsequenzen. Wenn beispielsweise, wozu besonders in der unvollständigen Familie eine Gefahr besteht, die Mutter oder der Vater ihr Kind durch Zuneigung zu stark an sich binden, wird es dem Kind erschwert oder gar verunmöglicht, die notwendige Trennungsarbeit zu leisten, um sich einem anderen Du zuwenden zu können, wenn es erwachsen wird. Das Kind, beziehungsweise der inzwischen erwachsen gewordene Mensch, bleibt auf das Elternteil, das ihn einvernimmt, fixiert. Das ist nun ein Beispiel, wie sich ein unbewältigter, jedoch nicht unbewältigbarer Konflikt schließlich mit psychischer Gewalt füllen kann. Dies ist auch eine Situation, die der Galtungschen Gewaltdefinition entspricht. Die vom norwegischen Friedensforscher Johan Galtung2 gegebene Definition für Gewalt kann gut als Leitfaden in diesem Zusammenhang dienen: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer als ihre potentielle Verwirklichung ist.“
Die wertmäßig-kulturelle Dimension
Das dritte Feld in Abbildung 3, sich auf die wertmäßig-kulturelle Dimension beziehend, umfaßt alle jene Konflikte, die aufgrund der Werte und Wertvorstellungen aufbrechen, die für uns und unsere Gruppe(n), in die wir integriert sind, die zwischen uns und unserem Sozialfeld, sowie zwischen unserem Sozialfeld und dem Umfeld gelten. Das Wort Wert deutet auf die besondere Art dieser Konflikte hin: Hier geht es um Tiefergehendes, Tieferliegendes, um Konflikte, die nicht durch einen Kompromiß oder ein geschicktes Taktieren aus der Welt geschafft werden können, denn die Aufgabe eines soziokulturellen Wertes ist fast gleichbedeutend mit der Aufgabe seines Selbsts, der Werdung und des Soseins des Menschen. Dann geht es oft um Alles oder Nichts. Ohne dies mit allzu vielen Beispielen illustrieren zu wollen, ist leicht erkennbar, daß auf dieser Ebene sehr viele Konfliktherde unterschiedlichster Artung, Ausprägung und Intensität entstehen und bestehen können. An erster Stelle seien religiöse Konflikte genannt, die zu allen Zeiten und weltweit viel Unheil anrichteten und uns heute noch sehr beschäftigen.
Wir starren mit Entsetzen auf Syrien, wo ein Diktator sein eigenes Land zerstört. Das kann ja nur geschehen, weil etwas ganz Anderes dahinter steht als nur ein paar mutige Rebellen, die mehr Demokratie fordern: Der Nahe Osten vom Hindukusch bis ans Mittelmeer steht wegen eines Religionszwistes in Flammen und Selbstmordattentäter verüben ihr übles Werk. Sunniten und Schiiten bekämpfen sich und fundamentalistische Islamkämpfer wollen einen Gottesstaat errichten. Aber blicken wir Mitteleuropäer doch ein bißchen in unsere Geschichte: Was geschah vor vierhundert Jahren in deutschen Landen? Katholiken und Protestanten bekämpften sich dreißig Jahre lang, wobei es sich nicht nur um religiöse Ansichten, sondern auch um machtpolitische Ansprüche und Vorherrschaften drehte, geradeso wie jetzt im Nahen Osten.
Die mitteleuropäischen Religionsfeindschaften endeten erst in neuerer Zeit. Noch Bismarck zettelte in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Kulturkampf an. Er mußte, wie Johannes Hartmann3 schreibt: „nach erbittertem Streit und wegen der inneren Festigkeit der katholischen Kirche und wegen der Unmöglichkeit, religiös-kirchliche Überzeugung mit staatlich-polizeilichen Gewaltsmitteln zu bekämpfen“ klein beigeben. In der Schweiz wurde der sog. Jesuitenartikel erst vor ca. 40 Jahren aus der Bundesverfassung gestrichen. Es ist zu befürchten, daß die religiösen Auseinandersetzungen im Nahen Osten noch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte andauern, bis die verfeindeten Parteien in gegenseitiger Anerkennung sich in Ruhe lassen.
Viele Menschen wurden in der Vergangenheit aufgrund der Unterdrückung ihrer religiösen Überzeugungen dazu gebracht, ihre Heimat zu verlassen, um ihren Überzeugungen in einem Auswanderungsland nachleben zu können. Viele europäische Auswanderer fanden in den Vereinigten Staaten das von ihnen gewünschte Klima der Toleranz und der Glaubensfreiheit vor.
Eine große Gruppe von Konflikten der wertmäßig-kulturellen Dimension sind die politischen Wertekonflikte, die aber oft nicht leicht von Zielkonflikten unterschieden werden können und zwischen Einzelnen oder Gruppen, in diesem Falle meist den Parteien, aber auch zwischen diesen und spezielle Interessen vertretenden Gruppierungen, der Lobby, aufbrechen.
Bei den Generationenkonflikten prallen tradierte Wertvorstellungen und Fortschrittsideen zwischen Jungen und Alten aufeinander. Dazu später mehr.
Konfliktwahrnehmung
Wir kennen alle das Sprichwort „Aus einer Maus einen Elefanten machen". Es ist nirgendwo sonst so zutreffend wie auf dem Gebiet der Konflikte. Denn oft klaffen Welten zwischen dem faktischen Vorhandensein und dem subjektiven Wahrnehmen eines Konfliktes auseinander. Wenn wir aus einer Maus einen Elefanten machen, liegt sicherlich Konfliktüberschätzung vor. Im Extremfall, nämlich wenn gar keine Konflikte vorliegen, wir aber glauben, es gäbe sie, regen wir uns über Scheinkonflikte auf. Besteht ein recht starker Konflikt, auf den nur unzulänglich reagiert wird, liegt Konfliktunterschätzung vor. Im vorteilhaftesten Fall besteht zwischen