Streiten verbindet. Rudolf Hopmann
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Dieses Diagramm ist sehr vereinfacht und soll nur das Grundsätzliche verdeutlichen. Genauere Laborversuche, allerdings mit Ratten, haben ergeben, daß Appetenz und Aversion nichtlinear verlaufen. Es hat sich auch gezeigt, daß sie mit Medikamenten, erst recht durch Drogen, in ihrer Intensität beeinflußbar sind. So kann die Aversion so vermindert werden, daß die Appetenz dominant ist und ohne Suche eines Ersatzziels das Ziel in einem angstfreien Zustand erreicht werden kann. Es gibt auch Appetenz – Appetenz – Konflikte (Statt eines zu teuren Mercedes kaufe ich mir nur einen VW.) und Aversions – Aversions – Konflikte (Lieber ertrage ich die Zahnschmerzen als zum Zahnarzt zu gehen.)
Den Widerstreit von Hinstrebung und Wegstrebung habe ich beim Schreiben dieses Buches zur Genüge durchlebt. Anfangs waren die Thematik und das, was ich darüber wußte oder schon zusammengetragen hatte, und alles das, was ich schreiben wollte, gegenwärtig und klar. Das gesteckte Ziel schien gar nicht schwer erreichbar. Dann kam die Zeit, in der sich Zweifel meldeten, und in der ich oft genug an meinem Ziel und meinen Fähigkeiten zweifelte. Angst mischte sich ein, wie das, was ich zu Papier gebracht hatte, von der Leserschaft aufgenommen werden würde? Die Wegstrebung war oft genug so groß, daß ich am liebsten das Projekt aufgegeben und alles in den Papierkorb geworfen hätte. Am Vorliegen dieser Schrift sehen Sie, daß ich alle Aversion überwunden habe.
Der zweite Mechanismus beschreibt die Wirkung von Alltagsproblemen auf unser Verhalten. Vor allem Neues oder Ungewohntes, welches bewältigt werden will, oder unzulänglich befriedigte Bedürfnisse stellen oft hohe Anforderungen an uns. Es sei zum Verständnis auf die neuen Technologien verwiesen, die wir nicht verstehen und deren Auswirkungen wir auch nicht abschätzen können, weshalb wir ganz den Experten und dem, was diese sagen, vertrauen müssen. Das trifft ganz besonders für die Kernkraftenergie und die Gentechnologie zu, denen viele Menschen ablehnend gegenüberstehen, weil ihnen die Fachkenntnisse fehlen, die es ihnen ermöglichen würden, die Notwendigkeit und die Vorteile des Einsatzes dieser Techniken gegenüber ihren Nachteilen abwägen zu können. Das streßt und erzeugt Ängste, die letztendlich zu klassischen (Individual-)Konflikten der sachlich-intellektuellen Dimension führen.
Streß als Konfliktauslöser
Eine Quelle erhöhten Stresses stellen unbefriedigte Bedürfnisse dar, vor allem dann, wenn sie unsere Existenz bedrohen. Es spielt mitunter dabei keine allzu große Rolle, wie essentiell dieses Bedürfnis ist, und ob solche Bedürfnisse berechtigt sind, weil sie unser körperliches Wohlwerden, Wohlergehen und Wohlbefinden bestimmen, oder nur vermeintlich bestehen, weil wir uns in unserem Konsumverhalten eingeschränkt sehen. Ausschlaggebend ist, wie ein Individuum in subjektiver Weise dieses Bedürfnis einstuft. In den Augen der Mitwelt könnte es sich um ein sehr nachrangiges Bedürfnis handeln. Wenn ihm aber subjektiv eine große Priorität eingeräumt wird, so bewirkt die Nichtbefriedigung starke negative Gefühle.
Oder sehr ungewohnt sind für uns die vielen Menschen, die aus fernen und fremden Kulturen zu uns kommen und ein völlig anderes Verhalten und andersartige Lebensgewohnheiten an den Tag legen. Wir können an mancherlei Dingen nicht einfach vorbeisehen und sind gezwungen, uns ein Bild von und über diese Fremdlinge zu machen. Wir sind gezwungen, uns ein Urteil zu bilden, weil wir uns mit ihnen auseinandersetzen, uns auf sie einstellen und auf sie zugehen sollten, ja müssen. Das macht uns jedoch Mühe und erzeugt in uns einen Streß, der infolge der Angst vor Überfremdung zur Aggression gegen sie führt, so daß uns Konflikte verschiedener Dimensionen, in erster Linie solche der wertmäßig-kulturellen Dimension bedrängen.
So kann man in der Regel davon ausgehen, daß eine Reihe von Konflikten im Schoße einer Streßerregung geboren werden. Streßerregung ist etwas sehr Persönlichkeitsgebundenes und im Grunde genommen auch etwas sehr Positives. Streß wurzelt in bestimmten physiologischen Vorgängen, die in uns Kräfte freisetzen und uns befähigen, mit Elan und Konzentration gestellte Aufgaben zu erledigen. Sie können aber auch genau das Gegenteil bewirken und destruktiv auf unsere Appetenz einwirken und zu übermäßiger Aversion führen. Übermäßiger Streß ist aus dieser Sicht als Überreaktion des Körpers zu sehen, der ihn beschädigen kann (Herzinfarktgefahr!). Ein junger Mensch wird in der Regel eine geringere Streßneigung aufweisen als ein älterer Mensch. Es ist nicht allzu übertrieben, älteren Menschen, allein schon aus bestimmten biologischen respektive physiologischen Gründen, eine größere Neigung zu Streßverhalten nachzusagen als Jugendlichen, auch wenn diese uns ständig vorhalten, wir würden sie "stressen", oder sie wären furchtbar gestreßt (als Ausrede, dieses oder jenes nicht tun zu müssen).
Wir alle kennen die Situation, wenn in uns Ärger oder gar Wut hochsteigen, physiologisch manifest durch eine Adrenalinausschüttung, die zu vermehrtem Blutdruck führt. Folge: das Gesicht wird rot, es wird rot vor Ärger, Wut und Streß. Dieser physiologische Zustand zeigt auch den Außenstehenden an, daß der Betreffende einer für ihn unliebsamen, „befremdlichen“ Situation gegenübersteht, der er nicht ganz gewachsen ist und die er deshalb abwehren möchte. Natürlich gibt es auch viele Situationen, in denen solche psychische Prozesse sehr unterschwellig ablaufen, so daß es zu unreflektierten Verhaltensweisen kommt oder vorgefasste Meinungen hervorbrechen, die im Augenblick schwer verständlich sind, weil die Zusammenhänge nicht einsehbar oder gut überdacht worden sind.
Die Frage, ob uns es gelingt, die ungewollte oder ungewohnte Situation abzuwehren oder vielleicht doch zu unserem Gunsten auszunutzen, erzeugt in uns Ängste. Es macht uns Angst, ob wir der Situation gewachsen sind oder nicht. Schaffen wir das oder sind wir überfordert? (Hier in diesem Punkt weisen die beiden Modelle gewisse Berührungspunkte auf.) Werden wir in unserem Selbstverständnis in Frage gestellt oder müssen wir gar überkommene Vorstellungen hinterfragen, wenn nicht sogar über Bord werfen? Werden wir unser Gesicht verlieren? Solche Angst kann zermürbend sein. Wie die Erfahrung lehrt, sind oft Menschen mit Antworten auf tägliche Probleme tatsächlich überfordert, so daß ständig eine unterschwellige Aggression vorhanden ist. Unser Leben ist ja wirklich sehr komplex und schwer zu meistern: Die ständige Teuerung, andauernde Arbeitslosigkeit, die vielen Fremden in unseren Städten und Dörfer, andersdenkende und andersfühlende Mitmenschen, überbordender Verkehr, zunehmende Umweltverschmutzung, steigende Kriminalität und sinkende Sicherheit auf den Strassen, Drogenszenen, alles Stichworte, die jeden Tag in den Nachrichten auftauchen und das allgemeine Leben prägen. Dazu kommen noch die persönlichen Sorgen wie jene um die Gesundheit, um die Altersvorsorge, um die Wohnung und anderes mehr.
In der Abbildung 6 mit der die Kadenz Streß – Angst – Regression bzw. Aggression ist die Angst als zentraler Punkt dargestellt worden. Sie muß zwar nicht unbedingt, aber kann zu Konflikten führen. Es sind zwei Wege angedeutet, die die Angst sich bahnen kann. Der eine ist der Weg in die Regression, der andere jener in die Aggression. Ob oder wie die Angst jeweilen beherrscht wird, hängt stark von des einzelnen Menschen Persönlichkeit ab: Eine unzulänglich ausgebildete oder mangelhaft gefestigte Persönlichkeit wird mehr Mühe mit solcher Art Angst und der erforderlichen Konfliktüberwindung haben als eine andere, die in sich gefestigt und des Lernens fähig ist. Lernen - davon wird noch die Rede sein - ist daher ein probates Mittel, diese Kadenz zu durchbrechen, Konfliktlösungsstrategien zu entwerfen oder sonst wie Wege zu ihrer Überwindung zu finden.
Die beiden folgenden Beispiele illustrieren gut die Aussage der Abbildung 6: In der Presse wurde berichtet6, dass ein Busfahrer eines öffentlichen Verkehrsträgers durch seine Ehefrau gegenüber polizeilichen Behörden des Alkoholismus bezichtigt und ihm daraufhin der Fahrausweis entzogen wird. Er legt mutlos die Hände in den Schoß, läßt sich krank schreiben und blickt perspektivlos in die Zukunft. In Heinrich Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“7 werden Michael Kohlhaus zwei Reitpferde seiner