Justus. Beatrice Lamshöft

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Justus - Beatrice Lamshöft

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sah, wurde der Harndrang plötzlich sehr stark, aber er konnte sich trotzdem nicht sofort entscheiden, ob er sich setzen sollte, wie man es ihm beigebracht hatte, oder ob er wie ein richtiger Mann im Stehen pinkeln wollte. Er entschied, dass Sitzen besser war, weil es so viel einfacher war, nichts Verbotenes zu tun, wenn man kaum noch einhalten konnte.

       Seine Füße baumelten in der Luft, während er sich langsam entspannte und die ersten Tropfen ins Wasser der Kloschüssel plätscherten. Er schaute auf die braunen Fußbodenfliesen, die zu zählen er an diesem Morgen keine Lust hatte. Dann wanderte sein Blick zur Badewanne hinüber.

       Schlagartig erstarrte er. In der Badewanne lag seine Mutter. Nackt. Der Kopf war merkwürdig zur Seite geneigt, das Kinn lag auf der Brust, die Augen waren geschlossen. Ihre langen braunen Haare schwammen im Wasser oder klebten auf ihrer weißen Brust. Und die Lippen … Sie waren so weiß.

       Sein Herz hämmerte, Blut schoss in seinen Kopf. Einen ganz kurzen Moment nur sah er sie an, dann senkte er den Blick zurück auf den Boden, wo er wie festgenagelt verharrte. Seine Hände krallten sich am Toilettensitz fest, er presste die Beine zusammen und spannte die Beckenmuskeln an, um den Urin einzuhalten. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Wahrscheinlich schlief sie … Oder nicht?

       Er lauschte, wartete, ob etwas geschehen würde. Stille. Nichts rührte sich. Es war verboten, Mama nackt in der Badewanne zu sehen. Das hatte ihm zwar niemand gesagt, aber irgendwie wusste er es ganz sicher. Er würde nicht mehr hinsehen. Wenn er sie nicht ansah, dann würde sie ihn vielleicht auch nicht sehen. Vorsichtig versuchte er, seine Muskeln wieder zu entspannen. Es gelang ihm, aber das plätschernde Geräusch des Urins war so unangenehm laut, dass er sofort wieder einhielt.

       Justus rutschte von der Toilette und zog seine Hose hoch. Er schloss den Deckel, ohne abzuspülen, schlich zur Tür und drehte den Schlüssel um, bis es erneut Klack machte. Es war ein lautes Klack, das sich nicht vermeiden ließ und ihn trotzdem erschreckte. Behutsam öffnete er die Tür und huschte aus dem Badezimmer.

       Er dachte nicht darüber nach, was er als Nächstes tun wollte, sondern rannte wie einem Kommando folgend die Treppe hinunter, die in einem langen Bogen in die Eingangshalle führte. Dort standen seine feuerroten Gummistiefel auf der Fußmatte, als hätte sie jemand für diesen Augenblick bereitgestellt. Er zog sie an, öffnete die schwere Eingangstür und trat ins Freie. Die kühle Morgenluft empfing ihn, und er atmete tief ein. Dann setze er seinen Weg fort, lief über den englischen Rasen, vorbei an den Rosen, die noch nicht blühten, weiter zur großen Speckkirsche, vor der er stehen blieb. Schnell zog er seine Schlafanzughose ein Stück herunter und pinkelte wie ein Mann, so wie Tilman es ihm gezeigt hatte. Vom Druck erleichtert schloss er die Augen und sah seine Mutter, sah ihren regungslosen Körper in der Wanne liegen. Sie hatte geschlafen. Oder nicht? Ein kaltes Kribbeln kroch seinen Rücken hinunter, über den Po, bis zu seinen Kniekehlen, als würde ihm jemand Wasser über die Schulter gießen.

       Unschlüssig, wohin er nun gehen sollte, trottete er zum Gemüsegarten hinüber, betrat die Wiese dahinter, wo seine Mutter am Vorabend mit ihren Freunden gefeiert hatte. Es roch nach verbranntem Holz und Bier. Überall lagen leere Flaschen herum. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in den hellrosa gefärbten Himmel. Das Bild seiner Mutter kam ihm wieder vor Augen, und er erinnerte sich daran, dass das Wasser in der Badewanne auch rosa ausgesehen hatte, als hätte jemand rote Farbe hineingeschüttet.

       Deine Mama ist im Himmel, flüsterte eine leise Stimme in ihm. Schnell schüttelte er seinen Kopf, um den dummen Gedanken sofort wieder loszuwerden.

       Er nahm sich einen Stock und stocherte in der immer noch warmen Asche des Lagerfeuers herum. Plötzlich entdeckte er einen glänzenden Gegenstand, der zwischen all dem Schmutz in der Sonne blinkte. Es war der silberne Anhänger seiner Mutter. Gestern haben sie gefeiert, und heute ist der 1. Mai, dachte er. Ja, heute ist mein Geburtstag, mein Ehrentag, da kann ich mich ganz doll freuen! Doch er schaffte es nicht, das wunderbare magische Gefühl wieder heraufzubeschwören, das ihn beim Aufstehen so angenehm überrascht hatte, das eigentlich zu diesem besonderen Ereignis dazugehörte wie Sahne auf einem Geburtstagskuchen.

       Eine ängstliche Ungewissheit hatte sich in ihm eingenistet und wollte einfach nicht weichen, denn er glaubte, etwas sehr Verbotenes getan zu haben, von dem er inständig hoffte, es bliebe unbemerkt. Aber es war ja viel mehr als nur das. Etwas Unheimliches lag in der Luft, so wie der Schatten eines furchterregenden Dinosauriers. Reglos lauerte er im Hinterhalt und beobachtete sein Opfer. Und bald schon, ganz bald würde er zuschlagen.

       Justus angelte den spiralförmigen Anhänger aus der Asche. Seine Mutter nannte ihn Amulett. Was Amulett genau bedeutete wusste er nicht, vielleicht war es so etwas wie ein Talisman, ein Glücksbringer. Sein Großvater hatte einen, eine ausgestopfte Hasenpfote. Mama mochte sie nicht, obwohl sie sich so schön weich anfühlte.

       Nachdenklich betrachtete er das Schmuckstück in seinen Händen und fragte sich, ob seine Mutter es versehentlich fallen gelassen oder absichtlich ins Feuer geworfen hatte. Sorgfältig wischte er es an seinem Frotteeschlafanzug ab, um es zu säubern. Mama würde sicher sehr froh sein, wenn er ihr das Amulett zurückgab. Sollte sie ihn an diesem Morgen doch bemerkt haben und deshalb verärgert sein, dann würde er ihr den Anhänger geben, und sie würde sagen: Oh, Justus, mein Schatz, du hast ihn gefunden, das ist aber lieb von dir. Vielen Dank!

       Ganz bestimmt wäre dann alles wieder gut.

       Oder nicht?

      30. April 2012

      Die schwere Stahltür des Treppenhauses ächzt. Eine schmale, unscheinbare Gestalt schiebt sich durch den offenen Spalt. Er starrt sie an. Es ist eine Frau, schmächtig, in einem langen, viel zu großen weißen Mantel, keine zehn Meter von ihm entfernt. Dunkelbraune schulterlange Haare verdecken ihr Gesicht. Ihre Bewegungen sind langsam. Wie ein ferngesteuerter Roboter schreitet sie in Richtung Abgrund, ihre Seele scheint nicht zu Hause zu sein.

      Er weiß, dass sie springen wird, so wie er plötzlich weiß, dass er selbst nie gesprungen wäre. Sein Herz hämmert, das Blut schießt ihm in den Kopf. Er muss handeln, es ist keine Zeit nachzudenken. Mit drei Schritten ist er bei der Fremden, reißt sie von der Kante weg, einfach nur weg. Sie fallen auf das Dach, auf die graue, spröde Dachpappe. Sie schreit nicht, wehrt sich nicht, liegt nur da, zusammengekrümmt wie ein Embryo, ihm den Rücken zugewandt. Er hält sie umschlungen, spürt, wie heftig sie zittert, so wie er selbst auch. Und dann hört er ein Wimmern, das klingt wie das Wehklagen eines jungen Hundes, den man gerade noch vor dem Ertrinken gerettet hat. Vorsichtig streichelt er ihren Kopf, fühlt ihre weichen Haare.

      Er weint. Ob aus Erleichterung, Verwirrung oder aus Angst, er weiß es nicht. Minutenlang umklammert er ganz fest den schmächtigen Körper der Frau, deren Gesicht er nicht kennt. Sie wehrt sich nicht.

      Die Erde dreht sich weiter, lässt die Sonne endgültig hinter den Häusern verschwinden, und die Dunkelheit der Nacht fällt wie ein schwarzes Tuch auf die Stadt herab. Die Augen schweigen ohne Licht. Irgendwann ist auch sein Zittern verstummt, und er kann loslassen.

      Er atmet ruhig und gleichmäßig. Die Fremde löst sich zaghaft aus seiner Umarmung und dreht sich zu ihm, sie ist ihm so nah, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürt. Er betrachtet sie, sieht in ein fein gezeichnetes blasses Gesicht mit großen dunklen Augen. Ihr sanft geschwungener schmaler Mund steht ein wenig offen, als wollte sie etwas sagen, aber sie weiß wohl nicht, was.

      Vorsichtig streicht er mit den Fingerspitzen über ihre Wangen und ihren schmalen Nasenrücken. Es ist ihr nicht

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