Justus. Beatrice Lamshöft

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Justus - Beatrice Lamshöft

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abgetrennt. Am Straßenrand stehen im Wechsel junge Platanen und neonostalgische Straßenlaternen. Sie vermitteln das Bild heimeliger Wohnidylle, Markenzeichen für Lebensqualität und gehobenen Wohlstand.

      Justus und Marie gehen weiter, ohne zurückzublicken. Arm in Arm wandern sie ziellos durch die saubere Straße, umtanzt von ihren eigenen Schatten, die ihnen im Licht der Laternenkette gleichermaßen folgen wie vorauseilen, bis ihnen plötzlich vollkommen unvermittelt ein kleines Mädchen aus dem Dunkel einer Seitengasse direkt vor die Füße läuft. Zunächst ist die Kleine erschrocken, dann aber fängt sie sich, tritt zwei Schritte zurück und lacht laut glucksend, sichtlich amüsiert über ihre eigene Tollpatschigkeit. Ihre Zähne zeigen eine starke Verfärbung, die zweifellos von der roten Zuckerlasur des Paradiesapfels herrührt, den sie in ihrer rechten Hand hält. Die Zähne, denkt er, wie in dieser Zahnpastawerbung aus den Achtzigern. Oder waren es die Neunziger? Das Mädchen hat dunkelbraune Locken, die ihm bis zu den Schultern reichen, und es trägt einen rosafarbenen langen Mantel mit aufwendiger Blumenstickerei. Eine kleine Prinzessin.

      „Paulina, wo bist du? Komm schon, wir wollen fahren!“, ruft eine Frau.

      „Hier, Mama“, antwortet das Mädchen, „hier bin ich doch!“

      Ohne sich zu verabschieden läuft es zu einer schwarzen Limousine und steigt ein.

      „Süße Kleine, nicht?“, sagt Marie, während sie langsam eine Haarsträhne um ihren rechten Zeigefinger wickelt. „Ich hatte früher auch solche Locken. Jetzt nicht mehr, jetzt sind meine Haare ganz glatt. Schade, eigentlich.“

      „Kannst du dich an diese alte Zahnpastawerbung erinnern?“ fragt er, auf einmal ganz munter. „Der, in der die Frau sich die Zähne putzt und dann diese Pille zerkauen muss und in den Spiegel schaut und sagt: 'Ohhh! Alles rot!'“

      Marie schüttelt den Kopf. „Nein, die kenn ich nicht.“

      Er sieht auf ihren Finger, der sich ungeschickt zappelnd aus der verdrehten Haarsträhne befreit.

      „Ist nicht so wichtig“, flüstert er.

      Sie haben als Kinder wohl kaum die gleiche Werbung gesehen, dazu ist ihr Altersunterschied viel zu groß. Für einen Moment hatte er es vergessen.

      „Da drüben scheint was los zu sein. Ein Jahrmarkt oder so was.“ Marie zeigt auf ein Fenster, in dem sich bunte Lichter spiegeln.

      Sie fassen sich an den Händen und verlassen die helle Straße.

      Fünf Jahre später, 16. November 1987

      Er konnte nicht mehr schlucken, nicht mal seinen eigenen Speichel, und sein Hals brannte, als hätte er von Angelinas Tomatensoße speciale, gegessen, die sie nur ein einziges Mal zubereitet hatte, weil sie damit, wie der Großvater gesagt hatte, weil sie damit um ein Haar die ganze Familie umgebracht hätte, so scharf war sie gewesen.

       Angelina hatte ihm eine kleine Metallschüssel gebracht, in die er nun alle paar Minuten hineinspuckte. Der Speichel zog lange Fäden, er war klebrig wie Tapetenkleister, und er hatte Mühe, seinen Kopf so weit hochzuhalten, dass er beim Spucken nicht ständig sein Kinn besabberte.

       Es war acht Uhr morgens. Die Nacht war die Hölle gewesen, er hatte kaum ein Auge zugemacht. Angelina und Tante Cordula hatten abwechselnd bei ihm Wache gehalten und das Fieber kontrolliert, das gegen Mitternacht vierzig Grad erreicht hatte. Daraufhin wurde entschieden, ihm ein dickes Zäpfchen in den Po zu schieben, was er unter anderen Umständen wohl strikt verweigert hätte. Wegen der schrecklichen Schmerzen ließ er die unangenehme Prozedur jedoch kommentarlos über sich ergehen, als wäre er Gustav, der Rauhaardackel seines Großvaters. Der hasste nichts so sehr, wie gebadet zu werden. Sobald irgendwo das Rauschen von Wasser zu hören war, nahm er Reißaus. Hatte man ihn jedoch rechtzeitig geschnappt und in die Wanne gesetzt, erduldete er das Einseifen und Abbrausen widerstandslos wie ein braves Opferlamm, wobei er einen mit gesenktem Kopf und großen traurigen Augen ansah, als wollte er sagen: Da, schau mich an, du hast meinen Stolz gebrochen und mein Herz sowieso, aber wen interessiert das schon, ich bin ja nur ein kleiner Hund!

       War es Tante Cordula gewesen, die ihm das Ding verpasst hatte, oder Angelina? Er konnte sich einfach nicht erinnern, aber er hoffte inständig, dass es seine Tante war.

       Angelina … Sie hatte ungefähr ein Jahr zuvor ihre Stellung als Köchin angetreten, nachdem Inge in den wohlverdienten Ruhestand gegangen und zu ihrer Schwester nach Augsburg gezogen war. Nun wohnte sie in der kleinen Einliegerwohnung im Ostflügel des Gutshofes. Sie war so vollkommen anders als Inge, jung, schlank und sehr gut aussehend, eine rassige Italienerin. So hatte der Großvater sie genannt. Sie war Sizilianerin, hatte Temperament, und wenn sie lachte, zog sie ihre Nase kraus, was Justus besonders an ihr mochte. Auch die Gerichte, die sie zubereitete, schmeckten ganz anders als die von Inge, der grundsoliden Inge, die immer gesunde und deftige Hausmannskost zubereitet hatte, was sonst. Angelina koche italienisch und mit Pep, sagte der Großvater stets, wenn mal wieder ein Gericht serviert wurde, das er noch nicht kannte.

       Warum hatte er sie eingestellt? Er liebte das Alte und Bewährte, hielt viel auf Traditionen, auf Anstand und Ordnung, alte deutsche Tugenden. Und dann diese Italienerin.

       Je oller, je doller, hatte Tante Cordula bemerkt, nachdem ihr Angelina vorgestellt worden war. Was meinte sie nur damit? Etwa, dass der Großvater in Angelina verliebt war? Das war doch lächerlich! Angelina war vierundzwanzig und der Großvater schon irgendwas mit sechzig. Auch würde er nie wieder eine Frau so lieben, wie er Großmutter geliebt hatte, das sagte er immer wieder, wenn er ihr Ölgemälde betrachtete.

       Justus drehte den Kopf, um aus dem Fenster zu sehen. Es war ein übler Novembertag, nass und neblig, wie man es von diesem Monat kaum anders erwarten konnte. In der Schule, er war in der ersten Klasse des Gymnasiums, in der Schule schrieben sie jetzt eine Mathearbeit. Er würde sie verpassen, würde nicht nach der Stunde seine Ergebnisse mit denen der anderen Schüler vergleichen, die darauf brannten, zu erfahren, was er rausbekommen hatte, weil er der Mathecrack war. Das war schon was, der Mathecrack zu sein. Er lächelte, und für einen kurzen Moment vergaß er das Brennen in seinem Hals.

       Klack, klack, klack machte es im Treppenhaus. Das war Angelina, die stets Schuhe mit Absätzen trug, obwohl Tante Cordula sie schon oft genug ermahnt hatte, es sein zu lassen, weil es ungesund sei und laut zudem. Aber in diesem Haus zählte das Wort der Männer, und die weigerten sich, Angelina das Absatzklackern zu verbieten. Klack, klack, klack, die Schritte kamen näher, dazu die murmelnden Stimmen vom Großvater und von Dr. Severin, dem Hausarzt der Familie.

       Klack, klack, klack – deshalb hatte der Großvater Angelina eingestellt. Dieses Geräusch, es klang auf einmal so vertraut. Es waren Mamas Schuhe, die so geklungen hatten. Sie war klein gewesen wie Angelina und hatte deshalb immer diese hochhackigen Pumps getragen. Er wusste es, Inge hatte es ihm erzählt, und er hatte auf Fotos gesehen, dass es stimmte, und jetzt, da er Angelinas Schritte bewusst wahrnahm, war ihm, als erinnerte er sich ganz deutlich an das Klacken der Schuhe seiner Mutter auf den Flurfliesen. Oh, wie er hoffte, dass es nicht Angelina gewesen war, die ihm das Zäpfchen in den Po geschoben hatte.

       Dr. Severin öffnete die Tür, die bereits einen Spaltbreit offen gestanden hatte. Er trug ein langes Metallgestell in seiner linken Hand, das er neben dem Bett abstellte, während er seinen Patienten mit aufmerksamem Blick musterte.

      „Guten Morgen Justus! Na, du hast uns ja letzte Nacht ganz schön auf Trab

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