Jahre mit Camilla. Helmut H. Schulz

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Jahre mit Camilla - Helmut H. Schulz

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Kein Zweifel, sie gefiel mir.

      Dann legte ich wirklich das Brandenburgische Konzert auf. Während die abgezirkelten Motive und beinahe mathematisch behandelten Durchführungen aufklangen, brannte die Kerze herunter. Eine winzige Flamme schwamm in dem Rest Stearin.

      Durch das geöffnete Fenster war die Brandung zu hören. Sie war stärker geworden.

      Camilla streckte sich im Schlaf. Sie lag wie ein unordentliches Kind auf der Couch, aber ich wusste nur zu genau, dass sie kein Kind war.

      Als ich das Deckenlicht einschaltete, erwachte sie.

      «Entschuldigung», murmelte sie schlaftrunken.

      Ich rauchte noch eine Pfeife vor der Tür. Im Flur blieb ich einen Augenblick stehen. Hier lagen leere Gepäckstücke, eine große Reisetasche fand ich. Auf dem Anhänger las ich, Camilla Veerden. Pädagogisches Institut Güstrow, Internat.

      Camilla planschte mit bloßen Füssen im flachen Wasser. Die gelbliche Sonne mischte alle Farben eines mattgoldenen Tons bei. Das Meer, dieses große, sich ewig wandelnde Tier, war ruhig.

      Ich trug ihre Turnschuhe, den Korb mit Muscheln und bizarr geformtes Holz. Beides suchte Camilla an diesem Tag.

      «Was wollen wir mit diesem Zeug, Camilla?»

      «Es sieht so komisch aus.»

      Das verschiedenfarbige Haar fiel ihr in die Stirn. Die blonden, millimeterlangen Haare auf ihren Armen hielten glitzernde salzige Tropfen fest. Auf die weiße Wickelschürze hatte sie heute verzichtet. Sie stopfte den Rocksaum unter ihren Gürtel. Ihre Beine waren glatt, gebräunt und etwas zu kräftig. Mir fiel auf, dass ihr Gesicht immer von Anstrengung gerötet war, auch wenn sie nichts tat. Stets schien sie insgeheim mit etwas Schwerem beschäftigt.

      Ich betrachtete die Muscheln, die Camilla sammelte. Keine besonderen Muscheln, es gab sie zu Hunderten.

      Sie brachte einen salzwassergebleichten knotigen Strunk.

      «Der sieht aus wie Sie. Hier, die Augen, die schwarze Brille, die kleine runde Nase.» Mit einem Schwung warf sie das Holz in den Korb. «Der geht mit.»

      Ihr Gesicht wurde ernst oder traurig. Sie nahm das Holzstück behutsam aus dem Korb und betrachtete es aufmerksam.

      «Sie sehen dem Holz doch nicht ähnlich», sagte sie lächelnd. Sie schien sicher, dass ich zurücklächeln würde, und ich lächelte zurück.

      «Nun ja, gehen wir weiter», schlug ich vor.

      Der Spaß schien ihr verdorben. Sie suchte keine Muscheln mehr, sondern zog aus ihrer Tasche eine Sonnenbrille und setzte sie auf. Hinter den dunklen Gläsern versteckt, konnte sie mich ungestört betrachten.

      Ich grübelte darüber nach, weshalb sie anders hieß als ihre Mutter. Vielleicht war sie verheiratet? Ich verfiel auf die nächstliegende Variante: Sie war ein Findelkind.

      «Haben Sie eigentlich Post von Ihrer Mutter?»

      Es war ein schlauer Schachzug, schien mir. .Sie hätte jetzt sagen können, ja, sie schreibt, dass es ihr gut geht. Ich bin nicht ihre richtige Tochter, müssen Sie wissen.

      «Nein», sagte sie.

      Wir hatten den Gespensterwald erreicht. Ein Wald auf Stelzen. Tief hatte das Meer die Baumwurzeln unterhöhlt. Wie vorweltliche Ungetüme standen die Baumriesen auf Spinnenbeinen. Diesen Wald gibt es heute nicht mehr. Neue Deichanlagen haben gerettet, was zu retten war.

      Camilla fand einen Fisch, der bei dem schwachen Seegang nicht ins Wasser zurück konnte, ein bunt gefärbtes handlanges Vieh, das nur aus einem gefräßigen Maul bestand.

      «Werfen Sie doch das scheußliche Biest weg. Es ist sicherlich giftig.»

      «Es ist ein Meerteufel aber nicht giftig.»

      «Doch, natürlich ist er giftig.»

      Übrigens war ich nicht sicher, ob der Fisch Giftstacheln hatte. Bösartig genug sah er aus. Jedenfalls sollte er nicht in den Korb.

      «Unsinn, Herr Doktor. Was verstehen Sie von der Natur?»

      Ihre Bemerkung traf mich an einem wunden Punkt.

      Sie lächelte herablassend. «Also, wenn Sie es wünschen.» Der Fisch flog im Bogen ins Meer. «Am Strand ist mit Ihnen gar nichts los.»

      «Dann nehmen Sie mich gefälligst nicht mit.»

      «Ich muss aber mit einem Menschen sprechen können», sagte sie heftig.

      Ich sah voraus, dass wir uns streiten würden.·Es war lächerlich. Dieses Geschöpf und ich im Streit? Ich bin anfällig für einfache Informationen, wie Mensch, Liebe, Stille, Wort. Sie lösen klare, deutliche Vorstellungen in mir aus. Immer die gleichen.·

      «Ich verstehe überhaupt nicht, warum wir uns zanken», lenkte ich ein.

      «Ich schon. Weil Sie nicht aus sich herausgehen.»

      Verstimmt stapfte sie vor mir her durch den feuchten Sand. Tief drückten sich ihre Spuren ein. Zum Glück brachte sie es nicht fertig, länger als fünf Minuten zu schweigen.

      «Waren Sie schon einmal weit weg?»

      «Oft.»

      Interessiert blieb sie stehen und nahm die Brille herunter.

      «Und?»

      «Was und?»

      «Sie müssen doch irgendetwas, gesehen oder gedacht haben?»

      Ich hatte viel gesehen. Ich kannte die Region Kasachstan, ich kannte Bratsk, ich hatte riesige Wärmekraftwerke gesehen und transkontinentale Freileitungen an ungeheuren Stahlmasten. Ich berichtete von Staudämmen und Turbinen, wie es mir gerade einfiel.

      Camilla wurde von einem Lachkrampf geschüttelt. Sie musste sich setzen.

      «Sie sind zu komisch», gluckste sie. «Mehr als Staudämme und Kraftwerke haben Sie nicht gesehen?»

      «Für Sie ist die Natur etwas Fertiges», sagte ich, «ein paar Halme Wollgras, ein Baumstrunk, ein Fisch. Der Physiker will die Natur beherrschen.»

      «Trotzdem kann man sich darüber freuen», beharrte sie.

      Wir redeten im Grunde über ganz verschiedene, Dinge. Natur betrachten und Naturgesetze anwenden ist zweierlei. Ich setzte mich neben sie. Das Licht zerfloss, man konnte in die Sonne sehen, ohne dass einem die Augen schmerzten. Sie stand jetzt eine Handbreit über dem Horizont.

      Ich dachte: Warum kann man sich so schwer verständlich machen? Ich hatte auch mal eine Zeit, wo ich einen Fisch bewunderte. Ich fragte: Wie ist er organisiert? Ich trennte ein Stück Gewebe heraus, härtete es in Formalin, stellte mit dem Mikrotom Schnitte her, färbte sie ein und beobachtete unter dem Mikroskop die Zellstruktur. Was sich dort so starr anbot, das hatte gelebt, durch geheime Kräfte bewegt. Welche? Mit der Neugier fängt alles an.

      Dann geschah etwas Überraschendes. Camilla beugte sich zu mir herüber und küsste mich flüchtig auf

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