Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Hans Durrer

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Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn - Hans Durrer

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bleibe geistig rege und unterhalte mich häufig gut) auch immer wieder zweifeln liessen, denn er erinnerte sich nur an wenig von seiner Lektüre (wo er ein Buch gelesen hatte, war ihm präsenter als was drin stand).

      Lange hatten ihn Fernseh-Gesprächsrunden über Bücher fasziniert. Oft konnte er gar nicht glauben, was er da sah und hörte – Lehrer und Lehrerinnen beim Zensuren verteilen. Eitle Besserwisser, die Inhalte zusammenfassen konnten, differenziert und gescheit zu analysieren wussten, Kontext herstellten – und meilenweit entfernt von seinen eigenen Interessen argumentierten, denn für Harry waren weder der Aufbau der Geschichte noch der geschichtliche Zusammenhang relevant. Auch was der Autor oder die Autorin gemeint haben könnte, beschäftigte ihn nicht sonderlich. Für ihn zählte allein, ob er ins Buch hineingezogen wurde und ob es darin Sätze gab, die er unterstreichen wollte. Seine jugendliche Manie, manchmal ganze Seiten zu unterstreichen (ihm schien damals alles wichtig), hatte im Laufe der Jahre etwas nachgelassen.

      Ihm war klar, dass seine Buchmanie mit den Jahren schlimmer geworden war – ein Blick auf die Türme ungelesener Bücher, die den weitaus grössten Raum seiner kleinen Wohnung einnahm, genügte, um ihm vor Augen zu führen, dass er ein Problem hatte. Und dieses, so sagte er sich nicht zum ersten Mal, würde er an diesem sonnigen Morgen angehen. Nur eben: Der wunderbare Herbsttag lud nicht nur zu einem Spaziergang ein, er forderte ihn so recht eigentlich dazu auf. Er würde sich schuldig fühlen, wenn er nicht raus ging (Bin ich froh, dass es morgen regnet, dann muss ich nicht aus dem Haus, hatte ihm ein 80Jähriger bei einer Beerdigung gesagt) und so beschloss er, dies später am Tag zu tun, doch zuerst galt es, einen oder zwei Büchertürme lichter werden zu lassen – am Ende konnte er sich dazu überwinden, sechs (von den geplanten fünfzig) Büchern auszusortieren.

      Beim Hin und Her, ob er dieses oder jenes weggeben könnte, stiess er auch auf einen Roman von Andrew Vachss, dessen Bücher er in jungen Jahren verschlungen hatte. Gerade tags zuvor war er über Vachss' Namen gestolpert, wo war das nur gewesen? Ja, genau, in einem Kriminalroman von Joe R. Lansdale, genauer in der Widmung, die da lautete: „Das hier ist für meinen Bruder Andrew Vachss, Krieger.“ Unverzüglich nahm er sich den Vachss' Roman vor, dessen Protagonist, ein Krieger im Grossstadtdschungel New York, sich ausschliesslich für Kinder und Jugendliche einsetzte und Kinderschänder nicht Pädophile nannte, sondern sie als das bezeichnete, was sie waren: Kinderficker.

      Dass es darum ging, ein Krieger zu sein, war Harry in seinen Jugendjahren selbstverständlich gewesen. Im Laufe der Jahre hatte er das jedoch vergessen. Oder zur Seite geschoben, verdrängt oder was auch immer. Jedenfalls vernachlässigt. Bis er in einem buddhistischen Buch wieder darauf gestossen war. Ein Krieger nehme alles im Leben als Herausforderung, begegne dem, was ihm zustosse, ohne zu klagen und ohne Bedauern.

      What usually matters most to people is affirmation or certainty in the eyes of others; what matters most to a warrior is impeccabiblity in one's own eyes. Impeccability means living with precision and a totality of attention.

      Joseph Goldstein: The Experience of Insight.

      _____

      Er schaltete den Laptop aus, legte sich aufs Bett und nahm Andreas Guskis Dostojewskij. Eine Biographie zur Hand. „Alle fünfeinhalb Stunden wird er ‚wiedergeboren‘, ‚beginnt ein neues Leben‘, ätzt Sir Galahad alias Bertha Eckstein-Diener, die unversöhnliche Dostojewskij-Gegnerin.“ Harry nahm das für bare Münze und nicht etwa als Kritik und dachte so bei sich: Der ist ja wie ich. Oder vielleicht eher: Ich bin ja so wie der. Jedenfalls in dieser Beziehung. Er las weiter: „… nur allzu bewusst ist ihm, dass ‚die Flamme seiner Begierde nach dem Himmlischen‘, wie es bei dem von ihm so geschätzten Thomas von Kempen heisst, ’nicht rein ist vom Rauch der sinnlichen Neigung‘. Und er weiss auch und spürt mit jeder Faser seines Körpers, dass es unmöglich ist, sich der eigenen Natur zu widersetzen. Sein Leben so radikal umzustellen wie Lew Tolstoj, der die Feder mit dem Pflug vertauschen wird, um im härenen Bauerngewand seine Äcker zu bestellen – das ist Dostojewskijs Sache nicht. So verdächtig wie die Lebensform der Karriere, so ausgeprägt ist seine Skepsis gegenüber einem heiligmässigen Leben, das die eigene Natur vergewaltigt.“ Harry fühlte sich bestens getroffen.

      Verzicht ist heutzutage kein oft benutztes Wort. Nur eben: Wer nicht zu verzichten bereit ist, wird nichts ändern. Solche Sätze gehörten zu seinem Standardvokabular. Vor ein paar Tagen hatte er sie gerade wieder einmal einem Ratsuchenden vorgetragen und sie waren hängengeblieben. Nicht beim Ratsuchenden, bei Harry, der an diesem Samstagmorgen seine ersten wachen Momente in dem Bewusstsein verbrachte, das sei ein besonderer Tag, vielleicht sogar der seit vielen Jahren herbeigesehnte Wendepunkt.

      Nach dem Aufstehen war das Gefühl immer noch da. Sein Verzichts-Mantra vom Vortag ging ihm durch den Kopf und ihm dämmerte, dass er unter Verzicht immer etwas ganz Falsches verstanden hatte, also weniger Bücher kaufen oder keine Süssigkeiten mehr essen. Das war nicht nur falsch, es war so was von daneben, dass er es zuerst gar nicht fassen konnte. Verzicht war nicht ein bisschen weniger von dem oder von was anderem, Verzicht war radikal. Plötzlich war ihm das vollkommen klar, doch mehr nicht, insbesondere nicht, was das jetzt konkret bedeuten sollte.

      Er machte sich Kaffee, Eier und Speck. Kauend betrachtete er seinen Esstisch, dessen Oberfläche schon sehr lange zu gut zwei Dritteln mit den unterschiedlichsten Sachen belegt war, von Wollhandschuhen über Sombreros bis zu Briefmarken aus aller Welt, als sich seine Stimmung plötzlich änderte. So ging das nicht weiter, er musste unbedingt Ordnung schaffen. Die Klärung der Gedanken würde sich von selbst einstellen, wenn er seine Wohnung aufräumte. Er war selber ganz erstaunt, dass er es nicht bei dem Gedanken beliess, sondern sich unverzüglich daran machte, unter dem Bett verstaute Aktenordner hervorzuzerren. Dicker Staub wirbelte auf und nahm ihm fast den Atem. Hustend öffnete er die Balkontüre. In Plastiktüten verpackt entdeckte er einen Drucker, viele Kabel, ein Modem, einen Stapel Manuskripte, zwanzig Jahre alte Ausgaben des New Yorker und von Geo, eine Buchreihe mit Schweizer Autoren sowie zwei Federballschläger, die Erinnerungen an Yona hochkommen liessen, die einzige weisse Habanera in der Schweiz, wie die kubanische Botschaft in Bern behauptet hatte, die anderen Kubanerinnen seien alle Mulattas oder Negras und aus dem Osten der Insel.

      Sie hatte Autostopp gemacht, in Alamar, einem Vorort von Havanna; Jesús, der Taxifahrer, stieg auf die Bremse, kam holpernd zum Stillstand und setzte den Wagen zurück. Yona war jung und hübsch, economista und zur Zeit ohne Arbeit. Sie wolle nach Guanabo, zum Strand.

      Sie habe ihn vor ein paar Tagen in einem Traum gesehen, sagte sie, als er neben ihr aus dem Wasser auftauchte. Seinen Kopf, so wie gerade eben, als er aufgetaucht sei. Ein Déjà-vu? Sie kannte den Ausdruck nicht. Ob er an Vorherbestimmung glaube?

      Aus einem alten Kassettenrecorder schepperte Mendelssohns Hochzeitsmarsch, als sie im Jahr darauf in einer prächtigen Kolonialvilla in Havanna heirateten. In ihn verliebt habe sie sich als er damals nach dem Strand sein nasses Haar nach hinten gekämmt habe, erzählte sie ihm später.

      Beim Aufwachen war sie jeweils nicht ansprechbar. Schlaftrunken wankte sie ins Bad, machte die Dusche an, seifte sich ein und begann zu singen. Er freute sich wie ein Kind über soviel Daseinsfreude. Sie lachten viel zusammen, ihre Werte waren weitgehend dieselben.

       Quién tu prefieres, Fidel o Che?

       Che.

       Y por qué?

       Físicamente.

      

      Eine seiner früheren Freundinnen wurde von ihren Bekannten Che gerufen.

      _____

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