Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Hans Durrer

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Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn - Hans Durrer

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unvollständig und subjektiv, so subjektiv wie möglich. Nicht den unablässigen Gedankenfluss zu fassen suchen, nicht danach trachten, das Leben in den Griff zu kriegen. Die ihm gemässe Form, so beschloss er, waren die Tupfer, das Nebeneinander von ganz Unterschiedlichem, Anekdoten neben Ratschlägen, Einsichten neben Ansichten. Nach Lust und Laune? Einfach so, wie es ihm gerade beliebte? Sowieso. Und mit dem Ziel, so oft wie möglich gegenwärtig zu sein.

      I got the blues thinking of the future, so I left off and made some marmalade. It's amazing how it cheers one up to 'shred oranges and scrub the floor.

       D. H Lawrence.

      Zen pur. Tue was du tust und tue es ganz. Hier und Jetzt. Einem Kind ist das selbstverständlich, auch als Harry ein junger Mann war, musste ihm das niemand erklären. Lange Zeit hatte er sich mit der Frage herumgeschlagen, wieso ihm dieses intuitive Wissen abhanden gekommen, was passiert war. Bis er anfing zu ahnen, dass dieses Problematisieren das eigentliche Problem war.

      Was den Menschen fehle, hat Joseph Campbell gesagt, seien nicht Antworten auf Warum-Fragen, sondern the experience of being alive. Diese Erfahrung ist jederzeit und überall möglich. Für jeden und jede.

       Be aware, moment to moment, paying attention to what's happening in a total way. There's nothing mystical about it, it's so simple and direct and straightforward, but it takes doing.

       Joseph Goldstein: The Experience of Insight

       _____

      Nichts dünkte Harry befremdlicher, als dass er vor ein paar Tagen siebzig geworden war. In unregelmässigen Abständen tauchte in seinen Gedanken der Satz aus Balzacs Verlorene Illusionen auf, der ihm immer als Nachweis eines gänzlich misslungenen Lebens gegolten hatte: „Der Siebzigjährige sehnte den Augenblick herbei, da er leben könne, wie es ihm behagte.“ Behagte? Keine Ahnung, was ihm wirklich behagte. Noch immer nicht. Einmal das, dann wieder was anderes. Andererseits wusste er ganz genau, wie er leben wollte, doch aus ihm unerfindlichen Gründen tat er es nicht. Wobei: So unerfindlich waren sie ihm eigentlich gar nicht, nur passte es ihm hinten und vorne nicht, dass er sich auf eine bestimmte Art anstrengen sollte, jedenfalls dann, wenn sein Leben gelingen sollte. Das müsste sich doch eigentlich ganz natürlich, gleichsam organisch ergeben, sagte er sich. Er glaubte es nicht.

       The problems were predictable, and, as always happens, they looked their most formidable on file – muddling through is not an option ever advocated in briefing folders.

      Chris Patten: East and West.

      Kein Mensch wollte sich ändern, auch Harry nicht. Er redete lieber darüber. Und weil er so viel darüber redete und dabei auch viel Gescheites, das er sich angelesen hatte, von sich gab, merkte er meist gar nicht, dass er sich genauso verhielt wie alle anderen auch. Allerdings mit einem Unterschied, beruhigte er sich sofort: Ich weiss es! Ich habe darüber nachgedacht! Und das ist schon wertvoll an sich und ganz besonders angesichts der vielen ausschliesslich von Impulsen gesteuerten Trottel, die diesen Planeten bevölkern. Wenn nur diese blöden Zweifel nicht wären.

      Es war ihm zur Gewohnheit geworden, in unregelmässigen Abständen Bücher aus dem Regal zu nehmen und für künftige Lektüre herauszulegen. Er griff zu Ionescos Tagebuch heute und gestern, gestern und heute, blätterte darin, begann zu lesen. „Diese Todesangst, die immerwährende, schnürte mir die Kehle zu. Warum habe ich immer noch Furcht vor dem Tode, wie kommt es, dass ich ihn nicht glühend herbeiwünsche?“ Und im darauf folgenden Abschnitt: „Ich habe immer versucht, an Gott zu glauben. Nicht naiv, nicht subtil genug. Gewissermassen eine metaphysische Unzulänglichkeit. Doch ich habe noch nicht alle Brücken zu Gott abgebrochen.“ Genau so empfand Harry. Er war mit siebzehn auf Eugène Ionesco gestossen, und auf Zen Buddhismus. Immer wieder, in ganz unregelmässigen Abständen, war er zu diesen beiden zurückgekehrt, hatten sich Gedanken bei ihm gemeldet, die er mit diesem Rumänen in Paris und Zen-Ideen, in Verbindung brachte.

      „Wir haben Angst, kein Etwas mehr zu sein, keine Identität zu haben, sich einfach im Nichts aufzulösen. Wir haben Angst, dass etwas anderes 'ist' und nicht wir“, notierte Alexander Poraj in ALLEIN. Zen oder die Überwindung der Einsamkeit. Einverstanden, und was jetzt? Innehalten, aus der Gewohnheit fallen, sich der Gegenwart hingeben. Er habe immer gemeint, schrieb Masaoka Shiki kurz vor seinem Tod, das Erwachen, von dem im Zen-Buddhismus die Rede ist, bedeute, mit Gleichmut zu sterben. „Welch ein Irrtum: Erwachen bedeutet, mit Gleichmut zu leben.“ Möglicherweise war das auch ein gutes Rezept gegen die eher düstere Erkenntnis in Richard Flanagans Der Erzähler: „Die Leute haben keine Angst vor dem Tod, Kif, sagte er. Sie fürchten das Leben. Sie fürchten sich davor, im Augenblick des Sterbens einsehen zu müssen, dass sie nie gelebt haben. Der Tod führt uns unser Versagen vor Augen: Niemand hat so gelebt, wie er hätte leben sollen.“

      _____

      Am Flughafen in Zürich. Die Frau auf dem Sitz neben ihm, las in einem 'Kindle'. Was sie lese? Phillip Roth, I married a communist, erwiderte die Frau. Es war eines der wenigen von Roths Büchern, die er gelesen hatte. An den Inhalt erinnerte er sich jedoch nicht. Das ging ihm bei den meisten Büchern so. Balzacs Verlorene Illusionen hatte er mindestens zwei Mal gelesen, ohne Erinnerung an den Inhalt oder spezifische Szenen. Beide standen mit eigenhändigen Anmerkungen versehen nebeneinander im Regal. In jungen Jahren hatte er geglaubt, man lese, um sich zu bilden, doch was, wenn man kaum etwas von dem vielen Gelesenen abrufen konnte?

      Sie sei pensionierte Anglistin, sagte die Frau, und habe viele Roth-Bücher gelesen. Welches sie ihm empfehlen würde? Schwer zu sagen, sie habe so ihre liebe Mühe mit Roth, schätze ihn aber auch. Weil er autobiographisch schreibe? Nein, nein, nicht alles sei autobiographisch, das liesse sich durchaus unterscheiden. Die Frau hatte offenbar eine andere Vorstellung von Autobiographischem als Harry, für den alles, wirklich alles, autobiographisch war. Wie hätte es auch anders sein können? Bei allem, was man sagte oder schrieb, gab man immer nur Auskunft über sich selber. Wie man etwas wahrnahm und beurteilte. Etwas anderes war gar nicht möglich, schliesslich kannte man nur sich selber, wenn auch höchst unvollständig.

      Die Frau sah das anders und zwar so, wie sie es studiert hatte. Wenn man auf Ereignisse in seinem Leben Bezug nimmt, ist das doch nicht mit dem zu vergleichen, was man sich ausdenkt, sagte sie. Schon, erwiderte Harry, doch beides existiert in diesem Moment nur im Kopf und etwas anderes als diesen Moment können wir doch nicht erleben. Die Dinge so zu betrachten, bedeute, jegliche Form der Kommunikation zu verweigern, gab sie ungehalten zurück. Nicht jegliche, nur Ihre.

      Als Hemingway in Paris Fiesta schrieb, setzte er sich jeden Morgen vor seine Schreibmaschine, platzierte seine Finger über die Tasten, schaute gen Himmel und sagte: Tu peux venir. Sie war nicht beeindruckt. „Ach, der Hemingway, der sagte viel.“ Er fühlte sich bemüssigt, darauf hinzuweisen, die Geschichte habe er von Cormac McCarthy gehört, was sie mit „Drei Bücher habe ich von ihm gelesen“ konterte. Harry, der weder den Zusammenhang verstand noch Lust auf einen Wettbewerb, verabschiedete sich und eilte viel zu früh zum Gate.

      _____

      Nachdem er unter dem Bett etwas Ordnung geschaffen hatte – drei Ordner anders verstaut – , nahm er sich ein Regal vor, auf dem vor langer Zeit geschriebene Texte lagerten. Er guckte mal hier, mal dort rein, blätterte oft ungeduldig weiter, blieb gelegentlich hängen, las sich fest. Und kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Zwar sagte er oft, wenn er alle seine Gefühle auf ein einziges reduzieren müsste, wäre das ganz klar die Angst. Doch dass er jetzt in Aufzeichnungen von vor fünfundzwanzig Jahren auf Passagen stiess über genau dieselben Angstgefühle, unter denen er noch heute litt, das haute ihn um. Gab es denn da gar keine Entwicklung? Waren all die

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