Die denkwürdigen Erlebnisse des Artur Gordon Pym. Edgar Allan Poe

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Die denkwürdigen Erlebnisse des Artur Gordon Pym - Edgar Allan Poe

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Kapitel

      Wo es sich um Vorliebe und Abneigung handelt, sind wir niemals imstande, aus den einfachsten Tatsachen Schlüsse zu ziehen. Man sollte denken, daß ein Ereignis wie das oben geschilderte meine keimende Leidenschaft für das Meer vollkommen zerstört haben müßte. Ganz im Gegenteil: ich empfand noch nie ein so brennendes Verlangen nach den wilden Abenteuern eines Seemannslebens wie in der Woche, die auf unsere wundersame Errettung folgte. Dieser kurze Zeitraum erwies sich lang genug, um alle Schatten jenes gefährlichen Erlebnisses zu verscheuchen und alle angenehmen, aufregenden, farbenglühenden Momente, all das Malerische ins hellste Licht zu stellen. Meine Gespräche mit Augustus wurden immer häufiger und immer reicher an Interesse. Er hatte eine Art, seine Ozeangeschichten (von denen gewiß mehr als die Hälfte erlogen war) zu erzählen, die wohl dazu angetan schien, auf einen Menschen mit meinem begeisterungsfähigen Gemüt und meiner düsteren und doch dabei feurigen Einbildungskraft Eindruck zu machen. Es ist merkwürdig genug, daß er mich am lebhaftesten für das Leben der Seeleute einzunehmen vermochte, wenn er ihre entsetzlichsten Augenblicke, ihre Leiden, ihre Verzweiflung schilderte. Für die freundliche Seite des Gemäldes hatte ich nicht viel übrig. Ich träumte von Schiffbruch und Hungersnot, von Tod oder Gefangenschaft unter barbarischen Horden, von einem Dasein voll von Trauer und Tränen, verbracht auf grauen und öden Felsen in einem unbekannten, unerreichten Weltmeer. Solche Visionen und Wünsche (denn Wünsche waren es) sind, wie man mir seitdem versichert hat, dem ganzen weitverbreiteten Geschlecht melancholischer junger Leute gemeinsam; zu der Zeit jedoch, von der ich rede, hielt ich sie für prophetische Einblicke in ein Schicksal, das zu erfüllen ich mich gewissermaßen verpflichtet fühlte. Augustus ging vollkommen auf meine Gemütsverfassung ein. In der Tat ist es wahrscheinlich, daß aus unserm engen Verkehr zum Teil eine Vertauschung unserer Charaktere sich ergeben hatte.

      Etwa achtzehn Monate nach dem Untergang des »Ariel« war die Firma Lloyd und Vredenburgh (ein Haus, das, wie ich glaube, irgendwie mit den Herren Enderby in Liverpool zusammenhängt) damit beschäftigt, die Brigg »Grampus« für eine Walfängerfahrt auszubessern und herzurichten. Ich weiß kaum, warum sie andern und besseren Schiffen der Firma vorgezogen wurde; war sie doch ein alter Kasten und nach allen Verbesserungen eben zur Not seetüchtig; aber so geschah es. Herr Barnard sollte sie befehligen, Augustus ihn begleiten. Während die Brigg ausgerüstet wurde, legte er mir oft nahe, welche vortreffliche Gelegenheit sich mir jetzt biete, meiner Reisesehnsucht zu frönen. Er fand in mir durchaus keinen unwilligen Zuhörer, aber die Sache ließ sich nicht so glatt erledigen. Mein Vater widerstrebte zwar nicht mit Entschiedenheit, aber meine Mutter bekam bei der bloßen Erwähnung des Planes Krämpfe, und was das Schlimmste war, mein Großvater schwor, mich zu enterben, spräche ich ihm noch ein einziges Mal von dem Gegenstand. Aber diese Schwierigkeiten setzten mein Verlangen nicht matt, vielmehr wurde die Flamme meiner Wünsche noch stärker angefacht. Ich beschloß, auf jede Gefahr hin zu reisen, und nachdem ich Augustus meinen Entschluß mitgeteilt hatte, bedachten wir einen Plan zu seiner Ausführung. Inzwischen sprach ich zu keinem Verwandten ein Wort, das sich auf die Reise bezog, und da ich mich auffällig mit meinen laufenden Studien beschäftigte, wähnten alle, ich hätte meine Absicht aufgegeben. Ich habe seither oft mein damaliges Verhalten mit Mißvergnügen und Erstaunen betrachtet. Die arge Heuchelei, die ich zur Förderung meines Unternehmens übte – eine Heuchelei, die lange Zeit hindurch jedes Wort, jede Handlung meines Lebens beherrschte –, sie kann mir nur erträglich geworden sein durch die wilde, brennende Sehnsucht, mit der ich bei Erfüllung meiner lang gehegten Reiseträume entgegensah.

      Indem ich meinen betrügerischen Plan verfolgte, mußte ich natürlicherweise das meiste den Händen meines Freundes überlassen, der den größten Teil des Tages an Bord des »Grampus« tätig war, wo er verschiedene Vorkehrungen in der Kajüte an seines Vaters Stelle überwachte. Am Abend jedoch hatten wir regelmäßig eine Besprechung und ergötzten uns an unseren Hoffnungen. Fast ein Monat war auf diese Weise verstrichen, ohne daß wir auf einen Plan gekommen wären, der Erfolg versprochen hätte; da teilte er mir plötzlich mit, alles Nötige sei von ihm vorbereitet. In Neu-Bedford lebte ein Verwandter von mir, ein Herr Roß, in dessen Hause ich zuweilen einige Wochen zu verbringen pflegte. Die Brigg sollte Mitte Juni segeln (es war im Jahre 1827), und wir kamen überein, daß ein oder zwei Tage, bevor sie in See stach, mein Vater einige Zeilen von Herrn Roß erhalten sollte, durch die ich eingeladen würde, wieder ein paar Wochen bei seinen Söhnen Robert und Emmet zuzubringen. Augustus übernahm es, dieses Brieflein zu erdichten und richtig abliefern zu lassen. Nachdem ich dann scheinbar nach Neu-Bedfort abgereist sei, sollte ich mich bei meinem Genossen melden, der mir dann ein Versteck an Bord des »Grampus« besorgen wollte. Dieses Versteck, versicherte er mir, würde für eine Reihe von Tagen, während derer ich mich nicht zeigen dürfte, ein ausreichend bequemer Aufenthalt sein. Sobald das Schiff so weit gelangt wäre, daß man an eine Umkehr um meinetwillen nicht denken könnte, sollte ich an allen Bequemlichkeiten der Kabine teilnehmen dürfen; und was seinen Vater beträfe, so würde der nur herzlich lachen über den gelungenen Spaß. Man würde genug Schiffen begegnen, die einen Brief an meine Eltern mitnehmen könnten, durch den sie die nötige Aufklärung über mein Abenteuer erhalten würden.

      Endlich kam die Mitte des Juni heran, und alles war reif zur Ausführung. Der Brief war geschrieben und abgegeben, und am Montag früh verließ ich das Elternhaus, wie man meinte, an Bord des Bedforder Packboots. Statt dessen eilte ich zu Augustus, der mich an einer Straßenecke erwartete. Ursprünglich sollte ich bis zum Anbruch der Nacht aus dem Wege bleiben und dann an Bord schlüpfen; aber ein dichter Nebel begünstigte uns, so daß wir einig wurden, daß ich sogleich versteckt werden sollte. Augustus ging voran zum Kai, ich folgte, in einen dicken Seemannsmantel gehüllt. Als wir um die zweite Ecke bogen, gleich hinter dem Brunnen des Herrn Edmund, wer stand da plötzlich vor mir und sah mir gerade in die Augen? Mein Großvater, der alte Herr Peterson. »Hol' mich der Kuckuck, Gordon«, sagte er nach einer langen Pause, »wie, wie? Wessen schmutzigen Mantel hast du denn an?« – In der Bedrängnis des Augenblickes gab ich mir den Anschein, gekränkt und verwundert zu sein, und entgegnete in den brummigsten Baßtönen: »Mein Herr, Sie scheinen sich zu irren; erstens heiße ich nicht Goddin, und dann, wie kannst du oller Lump meinen Äwerrock schmutzig heiten?« Ich konnte um alles in der Welt kaum eine tolle Lache zurückhalten, als der alte Herr bei dieser strammen Abfertigung ein paar Schritte zurückfuhr, erst bleich, dann puterrot wurde, seine Brille hob und senkte, um zuletzt mit erhobenem Regenschirm Sturm auf mich zu laufen. Doch hielt er mit einem Male an, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen sei; dann machte er kehrt und hinkte die Straße hinunter, indem er vor Wut bebte und zwischen den Zähnen murmelte: »Geht nicht – neue Brille – dacht', es wäre Gordon – gottverdammtes unnützes Matrosengesindel!«

      Nachdem wir so knapp der Gefahr entronnen waren, rückten wir mit größerer Umsicht vor und erreichten sicher unser Ziel. An Bord befanden sich nur ein oder zwei Leute, und die waren mit irgendeiner Arbeit am Vorderkastell beschäftigt. Kapitän Barnard hatte, wie wir wußten, bei Lloyd und Vredenburgh zu tun und würde bis in den späten Abend hinein dort verweilen, so daß wir in der Beziehung wenig zu fürchten hatten. Augustus erkletterte das Schiff zuerst, ich folgte nach, ohne daß die arbeitenden Matrosen unser ansichtig wurden. Wir begaben uns nach der Kajüte und fanden sie leer. Sie war aufs bequemste ausgestattet, wie man das bei Walfängern selten findet. Es gab vier schöne Staatskabinen, mit breiten und bequemen Kojen. Ferner bemerkte ich einen großen Ofen, und den Boden bedeckte ein kostbarer dicker Teppich. Die Höhe betrug volle sieben Fuß, kurz, alles war viel geräumiger und angenehmer, als ich es mir gedacht hatte. Doch Augustus ließ mir nicht viel Zeit zur Umschau; er bestand darauf, daß ich mich eilends verbergen müsse. Er führte mich in seine eigene Kabine, die auf der Steuerbordseite und nahe an der Schott lag. Sobald wir drinnen waren, schloß er die Tür und schob den Riegel vor. Ich glaubte, noch nie ein so schmuckes Zimmerchen gesehen zu haben. Es war zehn Fuß lang und besaß nur eine Koje, aber diese war, wie gesagt, bequem und geräumig. Dicht an der Scheidewand war ein Raum, vier Fuß im Geviert, mit einem Tisch, einem Stuhl und einem hängenden Büchergestell, das zumeist See- und Reiseliteratur enthielt. Das Zimmer hatte noch andere Annehmlichkeiten aufzuweisen; am wenigsten möchte ich eine Art Eisschrank vergessen, in dem mir Augustus allerhand gute Sachen zum Essen und Trinken zeigte.

      Jetzt

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