Romain Rolland. Stefan Zweig
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Rom
Aus allen Fernen sprechen Stimmen auf den Unschlüssigen ein: die französische Heimat, die deutsche Musik, die Mahnung Tolstois, der feurige Anruf Shakespeares, Wille zur Kunst, Zwang zu bürgerlicher Existenz. Da tritt zwischen ihn und die rasche Entscheidung noch verzögernd der ewige Freund aller Künstler: der Zufall.
Alljährlich verleiht die École Normale ihren besten Schülern zweijährige Stipendien zur Reise, den Archäologen nach Griechenland, den Historikern nach Rom. Rolland strebt die Berufung nicht an: zu ungeduldig drängt sein Wunsch, schon im Wirklichen tätig zu wirken. Aber das Los sucht immer den, der es sich nicht selber ersehnt. Zwei Kameraden haben Rom ausgeschlagen, die Stelle ist vakant, so wird er gewählt, fast wider seinen Willen. Rom, das ist für den noch Unbelehrten tote Vergangenheit, in kalte Trümmer geschriebene Geschichte, die er aus Schrift und Pergamenten entziffern soll. Eine Schulaufgabe, ein Pensum und nicht lebendiges Leben; ohne viel Erwartung pilgert er zur ewigen Stadt.
Sein Amt, seine Aufgabe wäre dort, in dem finstern Palazzo Farnese Dokumente zu sichten, Geschichte aus Registern und Büchern zu klauben. Einen kurzen Tribut zahlt er diesem Dienst und verfaßt in den Archiven des Vatikans eine Denkschrift über den Nuntius Salviati und die Plünderung Roms. Aber bald hat nur das Lebendige über ihn mehr Macht: die wunderbare Klarheit des Lichtes der Campagna, die alle Dinge in eine selbstverständliche Harmonie auflöst und das Leben als leicht und rein empfinden läßt, strömt nach innen ein. Zum ersten Male wahrhaft frei, fühlt er sich zum ersten Male auch wahrhaft jung, eine Trunkenheit des Lebens kommt über ihn, bald ihn hinreißend in leidenschaftliche Gefühle und Abenteuer, bald seine ziellosen Träume zu wahrhafter Schöpfung steigernd. Unwiderstehlich wie bei so vielen erregt die linde Anmut dieser Stadt künstlerische Neigung; aus den steinernen Denkmälern der Renaissance hallt Ruf zur Größe dem Wandernden entgegen, die Kunst, die man in Italien stärker denn irgendwo als Sinn und heroisches Ziel der Menschheit empfindet, reißt ganz den Schwankenden an sich. Vergessen sind für Monate die Thesen, selig und frei schlendert Rolland durch die kleinen Städte bis nach Sizilien hinab, vergessen ist auch Tolstoi: in dieser Sphäre sinnlicher Erscheinung, im bunten Südland hat die Entsagungslehre der russischen Steppe keine Macht. Aber der alte Freund und Führer der Kindheit, Shakespeare, wird plötzlich wieder nah: ein Zyklus von Vorstellungen Ernesto Rossis zeigt ihm plötzlich die Schönheit seiner dämonischen Leidenschaft und weckt hinreißendes Verlangen, gleich Shakespeare Geschichte in Gedicht zu verwandeln. Um ihn stehen täglich die steinernen Zeugen vergangener großer Jahrhunderte: er ruft sie auf. Der Dichter ist plötzlich wach in ihm. In seliger Untreue zu seinem Berufe schafft er gleich eine ganze Reihe von Dramen, schafft sie im Fluge, mit jener brennenden Ekstase, die unverhoffte Beseligung immer im Künstler erweckt: die ganze Renaissance soll wie Shakespeares England in den Königsdramen erstehen; und sorglos, noch heiß vom Rausche der Verzückung, schreibt er eines nach dem andern, ohne um ihr irdisch-theatralisches Schicksal besorgt zu sein. Keine einzige jener romantischen Dichtungen erreicht die Bühne, keine ist heute mehr zu finden oder öffentlich zu erlangen, denn der reife Künstler hat sie verworfen und liebt in den verblaßten Handschriften nur mehr die eigene schöne und gläubige Jugend.
Aber das tiefste und weitreichendste Erlebnis jener römischen Jahre ist eine menschliche Begegnung, eine Freundschaft. Es gehört zum Mystisch-Symbolischen der Biographie Rollands, daß jede Epoche seiner Jugend ihn immer mit den wesentlichsten Menschen der Zeit verbindet, obwohl er eigentlich nie Menschen sucht, im tiefsten ein Einsamer ist, der am liebsten seinen Büchern lebt. Immer aber bringt ihn das Leben nach dem geheimnisvollen Gesetze der Anziehung in heroische Sphäre, immer wird er durch Beziehung den Gewaltigsten verbunden. Shakespeare, Mozart, Beethoven sind die Sterne seiner Kindheit; in den Schuljahren findet er Suarès, Claudel als Kameraden; in den Lehrjahren wird Renan ihm in einer Stunde, da er kühn den großen Weisen besucht, zum Führer, Spinoza sein religiöser Befreier, von ferne grüßt ihn brüderlich der Gruß Tolstois. In Rom nun weist ihn eine Empfehlung Monods an die edle Malvida von Meysenbug, deren Leben eine einzige Rückschau ist in heroische Vergangenheit. Wagner, Nietzsche, Mazzini, Hertzen, Kossuth war sie immer befreundet gewesen, Nationen und Sprachen sind diesem freien Geiste keine Grenze, den eine Revolution der Kunst oder der Politik nie erschreckte, der, »ein Menschenmagnet«, unwiderstehlich große Naturen vertrauend an sich zog. Nun ist sie eine alte Frau, milde geworden und klar, ohne Enttäuschung als ewige Idealistin dem Leben aufgetan. Von der Höhe ihrer siebzig Jahre überschaut sie weise und verklärt verklungene Zeiten, Reichtum des Wissens und der Erfahrung strömt von ihr dem Lernenden zu. In ihr findet Rolland die gleiche sanfte Verklärtheit, die erhabene Ruhe nach vieler Leidenschaft, die Italiens Landschaft ihm teuer macht, und wie dort aus Steinen, Bildern und Monumenten die Gewaltigen der Renaissance, so wird ihm hier aus Gespräch und mancher Vertrautheit das tragische Leben der Künstler unserer Zeit bewußt. In Gerechtigkeit und Liebe lernt er hier in Rom den Genius der Gegenwart erkennen, und dieser freie Geist zeigt ihm, was unbewußt längst eigenes Gefühl vorahnte, daß es eine Höhe des Erkennens und Genießens gibt, wo Nationen und Sprachen gleichgültig werden vor der ewigen Sprache der Kunst. Und auf einem Spaziergang auf dem Janikulus bricht plötzlich in einer einzigen Vision das zukünftige europäische Werk in ihm mächtig auf: der »Johann Christof«.
Wunderbar diese Freundschaft zwischen der siebzigjährigen deutschen Frau und dem dreiundzwanzigjährigen Franzosen: bald weiß keiner mehr von ihnen, wer dem andern zu tieferem Dank verpflichtet ist: er, weil sie ihm in großer Gerechtigkeit die großen Gestalten erweckt, sie, weil sie in diesem jungen leidenschaftlichen Künstler neue Möglichkeiten der Größe sieht. Ein und der gleiche Idealismus, der geprüfte und geläuterte der Greisin, der ungestüme und fanatische des Jünglings, klingen rein ineinander: jeden Tag kommt er zur verehrten Freundin in die via della polveriera und spielt ihr auf dem Klavier die geliebten Meister vor; sie wieder führt ihn ein in den römischen Kreis der Donna Laura Minghetti, wo er die intellektuelle Elite Roms und des wirklichen Europa kennen lernt, und lenkt mit sachter Hand seine Unruhe zu geistiger Freiheit. Auf der Höhe des Lebens, im Aufsatz über die »Antigone éternelle« , bekennt Rolland, daß es zwei Frauen waren, seine christliche Mutter und der freie Geist Malvida von Meysenbugs, die ihm die volle Tiefe der Kunst und des Lebens im Gefühl bewußt werden ließen. Sie aber schreibt in ihrem »Lebensabend«, ein Vierteljahrhundert ehe Rollands Name in irgendeinem Lande auch nur genannt wird, schon ein gläubiges Bekenntnis seines zukünftigen Ruhmes. Mit Rührung liest man heute dieses Jugendbild Rollands von der zitternden Greisenhand dieser freigeistigen, klaren Deutschen hingezeichnet: »Aber nicht nur in musikalischer Hinsicht erwuchs mir aus der Bekanntschaft mit diesem Jüngling hohe Freude. Es gibt gewiß gerade im vorgerückten Alter keine edlere Befriedigung, als in jungen Seelen denselben Drang der Idealität, dasselbe Streben nach den höchsten Zielen, dieselbe Verachtung alles Gemeinen und Trivialen, denselben Mut