Die Quellen des Zorns. Widmar Puhl
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Unumstritten ist bei Fachleuten jedenfalls: Die Zahl der Verfassungsgerichtsprozesse wegen politischer Uneinsichtigkeit bzw. schwindender Bereitschaft, politische Konflikte auch politisch zu lösen oder solche Lösungen zu akzeptieren, steigt. Die Tendenz dahinter: Immer häufiger sollen Gerichte politische Konflikte lösen, vor allem im Arbeitsrecht (Entlassungen, Insolvenzen), aber auch im Wirtschaftsrecht (Insolvenzrecht, Wirtschaftskriminalität) und im EU-Recht (Migranten, Asylrecht, Lobbyismus etc.).
Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Zeitungen, Fernsehen und Radio von solchen Kämpfen um moralische Grundfesten der Republik berichten. Dass keine materielle Korruption ohne die Erschütterung moralischer Fundamente möglich ist, versteht sich von selbst. Beispiele reichen von der „Starfighter“-Affäre bis heute: 1958, zufällig nach einer 12-Millionen-D-Mark-Spende des Herstellers Lockheed an die CSU, kaufte deren Vorsitzender Franz-Josef Strauß als Verteidigungsminister das berüchtigte Kampfflugzeug (178 Abstürze in zehn Jahren). Es folgten diverse Parteispendenskandale mit den berühmten „Gedächtnislücken“ des Otto Graf Lambsdorff (FDP) und Helmut Kohl (CDU), die „Lustreisen“ von Gewerkschaftern und VW-Betriebsräten (auch eine Form von Hartz-IV-Finanzierung) oder die Siemens-Bestechungsaffäre. Der Wähler hat dabei das Gefühl, immer nur die Spitze eines Eisberges zu sehen. Die „kalte Progression“ ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie Politik sogar zwingende Vorgaben des Verfassungsgerichts kaltschnäuzig ignoriert: Diese Form den Besteuerung ist schlicht verfassungswidrig, aber nichts tut sich.
Die „kleine Münze“ der Enttäuschung über den demokratischen Rechtsstaat zeigt sich in der Reaktion von Millionen kleiner Leute auf Jahrzehnte gesetzlicher Zickzack-Kurse von großer moralischer Beliebigkeit. Wer Steuerrecht nach Kassenlage macht, darf sich nicht wundern, dass immer mehr Steuerzahler das für ungerecht halten. Ähnlich ist es bei der illegalen Beschäftigung polnischer Pflegekräfte. So etwas machen die Leute nicht aus Bosheit, sondern weil die legale Regelung solcher Arbeitsverhältnisse für die meisten schlicht unbezahlbar ist. Zynismus taugt nicht als Ersatz für den klaren Blick auf die Wirklichkeit: Gerechtigkeit wird zum ruinösen Selbstversuch, Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit geraten zum Volkssport. Der Ehrliche ist der Dumme: Da dreht sich eine fatale, sich selbst verstärkende Spirale. Das Schlimmste daran ist ein Automatismus der Frustration.
Enttäuschung als statistischer Normalfall
Wie viele Streitfälle gehen allein wegen Hartz IV vor Gericht, wie viele wegen Scheidung und Unterhalt? Wie oft ist das Sorgerecht geändert worden und macht die Gewinner von heute zu den Verlierern von morgen – und wie oft das Erbrecht, das Strafrecht, das Sozialrecht mit den Regeln für Abgaben zur Krankenversicherung oder das Arbeitsrecht und das Insolvenzrecht? Lauschangriff nein, heimlicher Computerzugriff ja, Videoüberwachung je nachdem. Oder nehmen wir Staatsbürgschaften: Warum für Opel ja und für Schlecker nein, ist nicht mehr zu vermitteln. Finanzausgleich, Soli, Bankenrettung oder Millionärssteuer und Transaktionssteuer für kleine Privataktionäre, aber nicht für große Derivatezocker? Psychologisch verheerend: Gesetze folgen Mehrheiten und nicht moralischen Maßstäben. Und jedes Mal gibt es mindestens 50 Prozent Verlierer. Freilich zweifelt nur eine Minderheit der Verlierer in einem Rechtsstreit gleich am System. Doch im Lauf der Zeit, fürchte ich, ergeben viele Minderheiten eine Mehrheit von Enttäuschten. Mehrheiten aber nicht mehr für „systemrelevant“ zu halten und Parlamente zu ignorieren, ist undemokratisch.
Dabei ist das deutsche Grundgesetz etwa im Maßstab des Völkerrechts vorbildlich. Das sagen nicht nur Verfassungspatrioten wie Bassam Tibi („Krieg der Zivilisationen“), sondern auch viele deutsche Juristen mit internationaler Erfahrung. Präsentiert sich z. B. China als Rechtsstaat, ist das nach Ansicht des Völkerrechtlers Hans Stephan Puhl (FAZ, 9.4.1990) mit Vorsicht zu genießen: „Stolz wie ein Jäger über seine Strecke oder wie eine Hausfrau über den Frühjahrsputz zeigt man in der Volksrepublik Kriminelle, die man gefasst hat oder die ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden. Wanderausstellungen mit Fotos der Bösewichter und ihrer Häscher machen die Justiz zur moralischen Veranstaltung. Zu öffentlichen Hinrichtungen in Sportstadien werden ganze Schulen abkommandiert.“
Die Moral der „moralischen Veranstaltung“ allerdings ist ohne die verbindlichen Grundlagen eines Naturrechts höchst subjektiv, um nicht zu sagen beliebig: Allein im Herbst 1989, als Ostdeutschland skandierte „Wir sind das Volk“, wurden in China 28 000 Menschen für schuldig befunden, eines der „sechs Grundübel“ begangen zu haben: Pornographie, Glücksspiel, Rauschgift, Prostitution, Frauenhandel, feudaler Aberglaube. Mord und Totschlag, Raub und Diebstahl, Ausbeutung oder Wirtschaftskriminalität wiegen weniger schwer, ebenso Umweltverschmutzung mit vielfacher Todesfolge.
Also ist es auch mit Vorsicht zu genießen, wenn westliche Politiker allzu großen Gefallen an Rechtslehren aus dem alten China finden. Wie mein verstorbener Bruder Stephan Puhl schrieb: Das Chinesische kennt zwar kein Wort für „Menschenrechte“, aber eine uralte Weisheit lehrt: „Der Himmel liebt das Volk, und der Herrscher muss dem Himmel gehorchen.“ Wie er das allerdings zu tun gedenkt, das, so meinen nicht nur „lupenreine Demokraten“ wie Silvio Berlusconi und Wladimir Putin, hat dem Herrscher niemand vorzuschreiben – am wenigsten das Volk. Das Recht war in China immer das Recht der Herrschenden. Ohne objektive moralische Richtschnur gibt es für das Individuum kein verlässliches Recht. Auch wir in Europa haben Menschenrechte aufs Grässlichste verletzt, doch wir wissen im Gegensatz zur KP Chinas wenigstens, wovon wir da reden. Freilich ist Gerechtigkeit keine einfache Sache. Den vollkommenen Staat, das System vollkommener Gerechtigkeit kann es unter Menschen nicht geben. Aber das ist kein Grund, tatenlos jede Ungerechtigkeit hinzunehmen oder gar zu rechtfertigen. Wir dürfen uns an das Unrecht nicht einfach gewöhnen. Die Eltern des Untergangs heißen Fatalismus und gleichgültiges Schulterzucken.
Die Verfassung wurde für alle Deutschen geschrieben, nicht bloß für ein paar Strudelfurzer mit Lehrauftrag und Pensionsanspruch. Immer wieder höre ich, je nach Interessenlage, bei Kommentaren zum Grundgesetz-Artikel 29 Absatz 2, der bei Gebietsveränderungen eine Volksabstimmung zwingend vorschreibt: „Das steht da nicht, von Wiedervereinigung ist nicht die Rede.“ Die Dreistigkeit, mit der da der Buchstabe der Verfassung gegen ihren Geist ausgespielt wird, finde ich atemberaubend. So etwas empört mich, weil sich die Väter des Grundgesetzes derartige Unverschämtheiten nach menschlichem Ermessen wohl einfach nicht vorstellen konnten.
Ähnlich wie beim Kanzleideutsch sehe ich in solchen Formulierungen begriffliche Nebelkerzen oder den Versuch einer „Entrechtung“ der Normalbürger durch einen autoritären Anspruch auf Deutungshoheit. Aber warum soll ein Jurist einen Satz der Verfassung besser verstehen als der studierte Fachmann für deutsche Sprache, der Philosoph, meinetwegen auch der Physiker, Handwerker oder Theologe? Verfassungsfeinde sind für mich auch Leute, die an jedem Satz der Verfassung so lange herumzerren und spitzfindeln, bis sie das Gegenteil daraus gemacht haben. Wer meint, dass im Grundgesetz falsche Dinge stehen, soll das sagen und nicht so dumm daherschlaumeiern.
Dass es eine unbeeinflussbare Instanz für Wahrheit und Gerechtigkeit jenseits aller staatlichen Gesetze gibt, lehrt uns schon der historisch dokumentierte Prozess der Stadt Athen gegen den Philosophen Sokrates. Und Goethes Drama „Iphigenie auf Tauris“ zeigt, um wie viel stärker Menschlichkeit, Wahrheit und Menschenwürde sind als jedes Gesetz, das sie missachtet. Denn die Macht, Sprache zu regeln und damit auch Fragen über Wahrheit zu beantworten, über politisches Leben und soziale Realität, haben weder Fürsten noch gewählte Repräsentanten des Volkes noch Juristen. Diese Macht