Die seltsame Gräfin. Edgar Wallace

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Die seltsame Gräfin - Edgar Wallace

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Mylady, ich bin Lois Reddle.«

      Einen Augenblick schwieg Lady Moron, dann wandte sie sich zu ihrem Begleiter. »Dies ist Miss Lois Reddle, Selwyn.«

      Der schlanke, ein wenig vornübergebeugte junge Mann hatte im Gegensatz zu seiner Mutter weiche Züge und ein kleines Kinn.

      »Darf ich Ihnen meinen Sohn, den Grafen von Moron, vorstellen?« sagte die große Dame. Lois verneigte sich leicht.

      »Freue mich, Sie kennenzulernen«, murmelte der Graf mechanisch. »Wir haben schönes Wetter, nicht wahr?«

      Damit schien sein Vorrat an Unterhaltungsstoff verbraucht zu sein, denn er schwieg während der übrigen Unterhaltung.

      Lady Moron wandte jetzt ihre durchdringenden Blicke langsam von Lois ab und schaute den Anwalt an.

      »Ich bin vollkommen zufrieden, Shaddles.«

      »Miss Reddle ist ein sehr brauchbares, nettes junges Mädchen«, sagte er. »Und absolut vertrauenswürdig.« Dabei sah er verzweifelt auf die zerknüllten Urkunden, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Wirklich, man kann ihr in allen Dingen trauen. Ich zweifle nicht, daß Miss Reddle in der Besorgnis, möglichst bald zurückzukommen und Mylady zu sprechen, meinen Wagen leicht beschädigte das ist eine Kleinigkeit, die zwischen Mylady und mir zu regeln wäre.«

      Er hatte nämlich schon aus dem Fenster gesehen und mit der Routine eines Taxators die Höhe des Schadens festgestellt.

      »Sie wußte doch gar nicht, daß ich hier war, Shaddles. Außerdem bin ich nicht für den Schaden verantwortlich, der Ihrem Wagen zugestoßen ist.«

      Er rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her.

      »Ich bezweifle überhaupt«, fuhr die Gräfin fort, »daß dieser Karren noch irgendeinen Wert hat – in meinen Augen jedenfalls nicht. Komm, Selwyn.«

      Lois hatte einen Augenblick lang den Eindruck, als ob sich der junge Mann an dem Kleid seiner Mutter festhielte. Sie fühlte den unbändigen Wunsch zu lachen, als die Gräfin aus dem Zimmer rauschte.

      Shaddles eilte durch das äußere Büro, öffnete die Tür vor ihnen, ging die Treppe mit ihnen hinab und verabschiedete sich unten am Wagen von der Gräfin. Dann kam er zurück.

      »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, meinen Wagen so zu ruinieren?« fragte er ärgerlich. »Und dann sehen Sie einmal hierher auf diese Urkunden – kann ich die denn überhaupt noch am Gericht einreichen?«

      Bevor sie antworten konnte, sprach er weiter.

      »Wie hoch sich auch die Reparaturkosten des Autos belaufen sollten – ich werde Ihnen die Rechnung schicken, denn ich bin sicher, daß Sie auch nach dem Gesetz für den Schaden haften. Sie werden ein anständiges Gehalt bei der Gräfin beziehen, und Sie verdanken Ihre neue Stellung doch nur der Tatsache, daß ich ihr Anwalt bin.«

      »Die Reparatur will ich gerne bezahlen«, sagte Lois und war froh, als sie das Büro verlassen konnte.

      Zu Lizzys Verdruss war sie nicht sehr mitteilsam, und die ganze Last der Unterhaltung auf dem Heimweg fiel ihr zu. Lois war glücklich, als Lizzy sie verließ, um mit einer Freundin ins Theater zu gehen. Sie wollte allein sein, um über dieses furchtbare Problem, das sie selbst betraf, nachzudenken. Immer neue Fragen drängten sich ihr auf, und plötzlich erinnerte sie sich an den erschrockenen und bestürzten Blick Mike Doms, als sie ihm mitteilte, daß sie ins Gefängnis gehen wollte. Kannte er das Geheimnis? Warum beobachtete er sie? Bis jetzt hatte sie geglaubt, daß er nur den Wunsch habe, ihre Bekanntschaft zu machen, weil sie sein Interesse erregte. Sie war froh, daß sie jetzt eine neue Stellung antreten konnte. Im Dienste der Lady Moron würde sie mehr freie Zeit haben und auch mit Leuten zusammenkommen, die ihr bei ihren Nachforschungen behilflich sein konnten.

      Als sie ohne Appetit vor ihrem Abendessen saß, kam ihr plötzlich ein Gedanke. Sie sprang auf, nahm Hut und Mantel und machte sich auf den Weg zum Zeitungsviertel. Schon früher war sie manchmal für Mr. Shaddles zur Redaktion des ›Daily Megaphone‹ gegangen. Aber die Büros, die dem Publikum gewöhnlich zugänglich sind, waren schon geschlossen. Sie schickte ein kurzes Schreiben von der Loge des Portiers in das Redaktionsbüro, und zu ihrer größten Freude wurde ihr Wunsch erfüllt. Ein Bote brachte sie in das Archiv.

      Sie nahm einen der großen, dicken Bände aus dem Regal, öffnete ihn und schlug die Zeitungen nach, die über den Prozeß Pinder berichteten. Der Bote, der sie hergeführt hatte, verließ das Zimmer wieder. Zwei Stunden lang las sie eifrig alle Einzelheiten des Falles nach, den sie sonst als ein trauriges Verbrechen unbeachtet gelassen hätte. Als sie die Berichte ungefähr zur Hälfte durchgelesen hatte, tauchte ein Name auf, der ihr fast den Atem nahm. Es war der Name einer Entlastungszeugin, die von der Verteidigung vorgeladen worden war – Mrs. Amelia Reddle!

      Dann stimmte es also. Das war die freundliche Nachbarin, von welcher der Gefängnisdirektor gesprochen hatte. Diese große, schöne Frau, die mit solcher Ruhe über die Steinfliesen des Gefängnishofes schritt, war ihre Mutter! Und Mrs. Reddle hatte sie großgezogen, ohne ihr etwas von ihrer Herkunft zu erzählen.

      Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen, ihre Hände zitterten, als ihre Entdeckung so plötzlich bestätigt wurde.

      Ihre Mutter war unschuldig. Sie fühlte nicht nur eine natürliche Auflehnung gegen den Gedanken, daß in ihren Adern das Blut einer Mörderin rann – sie hatte die Überzeugung und innere Gewissheit, daß ihre Mutter unschuldig war.

      Ruhig und gelassen ging sie nach Hause zurück. Sie hatte den festen Entschluss gefaßt, die Unschuld ihrer Mutter zu beweisen und wollte ihr Leben dieser Aufgabe widmen.

      6

      Die Charlotte Street lag verlassen da, als sie auf dem Heimweg um die Ecke bog. Sie kam an einem kleinen, geschlossenen Wagen vorüber, der an der Bordschwelle hielt. Als sie die Straße halbwegs gegangen war und sie eben überqueren wollte, stellte sie überrascht fest, daß derselbe Wagen mit höchster Geschwindigkeit auf sie zukam. Sie hielt an, um ihn an sich vorüberzulassen. Sie bemerkte kaum, daß seine Lampen nur düster brannten, denn ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Das Auto kam näher, sein Tempo erhöhte sich von Sekunde zu Sekunde, und als es nur noch einige Meter von ihr entfernt war, fuhr es plötzlich auf sie zu.

      Im ersten Augenblick wollte sie rückwärts ausweichen, aber ihr Instinkt trieb sie vorwärts. Wenn es dem Fahrer noch gelungen wäre, in die Kurve zu gehen, wäre sie dem Tode nicht entgangen. Der plötzliche Sprung nach vorn hatte ihr das Leben gerettet. Die äußere Ecke des Schutzblechs streifte ihr Kleid und riß ein großes Stück Stoff so glatt heraus, als ob es mit der Schere abgeschnitten worden wäre. Im nächsten Augenblick raste der Wagen in Richtung Fitzroy Square an ihr vorbei. Die Nummer war nicht zu erkennen.

      Eine Sekunde stand Lois atemlos da und zitterte an allen Gliedern. Dann sah sie, wie sich jemand aus dem tiefen Schatten ihrer Haustüre löste und auf sie zukam. Bevor sie das Gesicht sah, wußte sie schon, wer es war.

      »Sie haben Glück gehabt – beinahe hätte es Sie gefaßt«, sagte Michael Dorn.

      »Was war denn das? Die müssen die Kontrolle über ihren Wagen verloren haben!«

      »Ja, das stimmt«, erwiderte er ruhig. »Haben Sie die Nummer erkennen können?«

      Sie schüttelte den Kopf. Seine Frage beunruhigte sie.

      »Nein,

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