Die blaue Hand. Edgar Wallace
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Der reichgeschnitzte Toilettentisch war im Stil Louis XV. gehalten und hatte eine goldeingelegte Platte. Der dazugehörige Kleiderschrank mußte allein ein Vermögen gekostet haben. In der Nähe des Fensters stand ein hübscher Schreibtisch, und ein prachtvoller Bücherschrank mit wunderbaren Ganzlederbänden war vom Bett aus zu erreichen.
»Aber das ist doch gar nicht möglich, daß ich hier wohnen soll«, sagte sie wieder.
»Doch, Miss. Sehen Sie, das ist Ihr Badezimmer. Wir haben hier bei jedem Schlafzimmer ein besonderes Bad. Mr. Groat hat das ganze Haus umgebaut, als er es kaufte.«
Eunice öffnete eins der bis auf den Boden gehenden Fenster und trat auf den kleinen Balkon hinaus, der sich bis zu einer viereckigen Veranda hinzog, die über der Eingangshalle des Hauses errichtet war. Man konnte sie von dem Podest der Treppe aus erreichen.
Eunice sah Mrs. Groat an diesem Tage nicht wieder. Als sie nach ihr fragte, erfuhr sie, daß die alte Dame sich mit bösen Kopfschmerzen zurückgezogen hatte. Auch Digby Groat begegnete sie nicht und aß ihre erste Mahlzeit ganz allein.
»Mr. Groat ist noch nicht vom Lande zurückgekehrt«, erklärte Jackson, der sie bei Tisch bediente. »Ist alles nach Ihrem Wunsch, Miss?«
»Jawohl, ich danke.«
Sie empfand wenig Sympathie für diesen Mann. Nicht, daß er es an Respekt ihr gegenüber hätte fehlen lassen oder daß er plump vertraulich gewesen wäre – aber es lag etwas Anmaßendes in seinem Benehmen. Sie war froh, als sie ihre Mahlzeit beendet hatte und ging enttäuscht in ihr Zimmer. Sie hätte Mrs. Groat gern noch so vieles gefragt, vor allem, wann sie ausgehen konnte.
Sie schaltete das Licht aus, öffnete das große Fenster und trat hinaus, um den kühlen, duftenden Abend zu genießen. Die letzten Schimmer des Abendrotes färbten die Wolkenränder. Der Platz unten war schon erleuchtet, und ein endloser Strom von Autos fuhr unter ihrem Fenster vorbei, denn Grosvenor Square war die Hauptverbindung zwischen Oxford Street und Piccadilly.
Die Nacht brach allmählich herein, und der gestirnte Himmel wölbte sich über ihr. Die Dächer und Türme der großen Stadt hoben sich wundervoll von dem magischen Licht des Firmaments ab. Die majestätische Einsamkeit und Schönheit der Nacht bezauberten Eunice so, daß ihr fast der Atem verging. Aber nicht das märchenhafte Licht der Sterne, nicht das melodiöse Rauschen der Bäume ließ ihr Blut aufwallen, sondern das Bewusstsein, daß es noch einen Menschen in der Welt gab, der zu ihr gehörte. Irgendwo in dieser großen, dunklen Stadt lebte ein Mann, der jetzt vielleicht an sie dachte. Sie sah sein Gesicht ganz deutlich vor sich, seine lieben Augen, sie glaubte den festen Druck seiner starken Hand zu spüren ...
Mit einem Seufzer schloß sie das Fenster wieder und zog die schweren, seidenen Vorhänge zu. Fünf Minuten später lag sie in tiefem Schlummer.
Wie lange sie geschlafen haben mochte, wußte sie nicht, aber ihrer Meinung nach mußten es Stunden gewesen sein. Der lebhafte Verkehr auf der Straße war allmählich verstummt, und das summende Geräusch der Großstadt war verklungen, nur hin und wieder hörte sie eine Hupe. Der Raum lag im Dunkeln, dennoch war sie davon überzeugt, daß jemand im Zimmer war!
Sie setzte sich aufrecht, ein kalter Schauer überlief sie. Es war jemand hier! Sie tastete mit der Hand nach der Stehlampe und hätte beinahe einen Schreckensschrei ausgestoßen, denn sie berührte eine Hand, eine kalte, kleine Hand, die auf dem Nachttisch lag. Einen Augenblick war sie vor Entsetzen gelähmt. Dann wurde die Hand plötzlich zurückgezogen, sie hörte das Rauschen des Vorhangs und sah einen Augenblick lang den Schatten einer Gestalt am Fenster. Sie zitterte am ganzen Körper; dann raffte sie sich zusammen, sprang aus dem Bett und drehte das Licht an. Das Zimmer war leer, und das große Fenster war nur angelehnt.
Und dann entdeckte sie auf dem kleinen Tisch am Bett eine graue Karte. Mit zitternden Fingern hob sie sie auf und las: ›Jemand, der Sie liebt, bittet Sie, um Ihrer Sicherheit und Ihres Rufes willen dringend, dieses Haus sobald als möglich zu verlassen.‹
Eine kleine, blaue Hand bildete die Unterschrift.
Sie ließ die Karte auf die Bettdecke fallen, starrte eine Weile darauf, dann schlüpfte sie in ihren Morgenrock, schloß ihre Tür auf und trat in den Gang hinaus. Ein schwaches Licht brannte am Anfang der Treppe. Sie war vollständig außer sich vor Schrecken und wußte kaum, was sie tat, als sie die Treppe hinuntereilte. Sie mußte jemand finden, irgendein lebendes Wesen, etwas Wirkliches, an das sie sich halten konnte. Aber das Haus lag in tiefem Schweigen. Die große Lampe in der Halle brannte, und Eunice sah eine altmodische Uhr stehen. Das kam ihr schwach zum Bewusstsein, als sie das feierliche Ticken hörte. Es war drei Uhr. Aber vielleicht war doch noch jemand im Hause wach. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und sie eilte den Gang hinunter, bis sie zu einer Tür kam, die sie für den Zugang zu den Dienstbotenräumen hielt. Sie öffnete sie und kam in einen einsamen Korridor, der nur durch ein Licht am äußersten Ende schwach erhellt war. Eine weiße Tür schloß ihn ab. Sie versuchte, sie zu öffnen, aber sie fand keinen Griff oder Drücker.
Es war überhaupt eine merkwürdige Tür, denn sie war nicht aus Holz, sondern aus geflochtenem Rohr.
Sie stand entsetzt still, denn sie hörte einen langgezogenen Schmerzensschrei aus dem Raum hinter der Tür. Er war so fürchterlich, so gräßlich, daß ihr Blut zu Eis erstarrte.
Sie wandte sich um und floh zurück durch die Gänge, die Halle, zur Haustür. Mit zitternden Händen drehte sie den Schlüssel um, das Schloß schnappte, und die Tür flog auf. Sie schwankte auf die breite Treppe hinaus. Auf der obersten Stufe saß ein Mann.
Er dreht sich um, als sich die Tür öffnete, und in dem Licht, das aus der Halle drang, erkannte sie ihn. Es war Jim Steele!
5
Jim sprang auf und starrte verwundert auf diese unerwartete Erscheinung. Einen Augenblick lang standen sie sich schweigend gegenüber, Eunice war starr vor Schrecken und Überraschung.
»Jim – Mr. Steele!« sagte sie atemlos.
Im nächsten Augenblick legte er den Arm um ihre Schultern.
»Was ist geschehen?« fragte er schnell. Seine Stimme klang heiser.
Sie zitterte und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. »Ach, es ist schrecklich, ganz schrecklich!« flüsterte sie.
»Darf ich fragen, was das alles zu bedeuten hat?« fragte jemand leise. Eunice drehte sich um.
Ein Mann stand in der offenen Tür. Im ersten Augenblick erkannte sie ihn nicht. Selbst Jim, der doch Digby Groat schon oft aus der Nähe gesehen hatte, wußte nicht, wer es war, denn er war in einen langen, weißen Mantel gehüllt, der bis auf die Füße reichte. Eine weiße Kappe war so eng über seinen Kopf gezogen, daß die Haare vollständig bedeckt waren, Weiße Gummibänder hielten seine Ärmel nach oben, und seine Hände steckten in braunen Gummihandschuhen.
»Darf ich Sie fragen, Miss Weldon, warum Sie mitten in der Nacht vor meiner Haustür stehen, in so leichten Kleidern, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit geeignet sind? Kommen Sie herein und erklären Sie mir alles«, sagte er, als er zurückging. »Grosvenor Square ist nicht an solche nächtlichen Vorführungen gewöhnt.«
Sie klammerte sich an Jims Arm und ging mit ihm in die Halle zurück. Digby schloß die Haustür.
»Mr. Steele, Sie machen Ihren Besuch zu sehr früher Morgenstunde!«
Jim