Zwischen Unabhängigkeit und Ordnungsfunktion. Jürgen Mietz

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Zwischen Unabhängigkeit und Ordnungsfunktion - Jürgen Mietz

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Beratung stellt sich – freiwillig, aus Gewohnheit, gezwungenermaßen – mehr in den Dienst der Behörde. Sie will politische Ziele (Schulabbrecher, Schulpflicht, Arbeitsmarkt, Inklusion) mit ihren Mitteln durchsetzen, wendet dafür Mittel des Regierens und Steuerns an. Eine behördennahe Beratungsorganisation ist damit politichen Zwecken nahe. Die professionelle Beraterin findet sich in Rollen wieder, die einander über Gebühr widersprechen, zumindest wenn es um Beratung als Möglichkeit der Unterstützung von Selbstbestimmung geht.

      Im Lernverlauf problematische Personen sollen im Steuerungsmodell mit vertretbarem Aufwand (also entsprechend dem gängigen Management-Modell eher technisch-funktional als subjektorientiert-aufklärend) effizient integriert werden. Es geht darum, »Effizienzrendite« durch bessere Steuerung ohne »neue Kostendynamik« herzustellen[Fußnote 2].

      Dort, wo Mittel knapp sind und verknappt werden – die auf Dauer gestellte Unterfinanzierung des Schulsystems ist bekannt – entsteht aus Gründen der Legitimität eine Notwendigkeit, „objektiv“ gerecht und legitimiert, Mittel zu vergeben oder vorzuenthalten. Ähnlichem Rationalisierungserfordernis unterliegt die Erfindung von „Kompetenzorientierung“, „Modularisierung“[Fußnote 3] etc. Sie entstammen nicht einer Logik der Individualisierung, einem Versuch, den individuellen Lern- und Aneignungsprozessen kognitiver und emotionaler Art auf die Spur zu kommen.

      Die subjekt- und verständigungsorientierte Beratung geht davon aus, dass, sofern ein geeigneter Rahmen vorhanden ist, die in der Verstehensarbeit liegenden Potenziale von Anerkennung, Einordnung, Reflexivität Verfügung über das eigene Leben und Lernen steigern kann.

      Eine steuernde Behörde mag andere Prioritäten haben. Tatsächlich waren und sind die subjektorientierten Ansätze immer wieder Kritik oder Unverständnis ausgesetzt. Das um so mehr als Schule sich an der Rationalität eines Wirtschaftbertriebs orientieren soll.

      Trotz aller Widersprüche des Schulsystems (die es teilweise seit der Gründung birgt), kommt es darauf an, dass es als legitim und gerecht erscheint. In diese Aufgabe ist Beratung verwickelt. Zum Besipiel, wenn es um Teilhabe an oder Ausschluss von begrenzten Fördermitteln geht. Die Beraterin, die frei, unabhängig und ergebnisoffen beraten möchte, tritt ihrer Klientel mit einem anderen (mehr oder weniger still lancierten Spar-) Auftrag gegenüber. Für einen Lehrer mag das nicht überraschend sein, ist er doch in der Regel ein eingeübter Akteur in

      diesem System. Psychologen könnte es anders ergehen. Sie bringen eine andere Berufssozialisation mit. Um Beratungsanlässe und -verläufe nicht im schulzweckorientierten Sinn engzuführen, bedarf es hoher Aufmerksamkeit für den „Gewinn der Differenz“. Anderenfalls könnte Beratung als Fortsetzung von Schule mit anderen (manipulativen) Mitteln empfunden werden. Das hätte schwerwiegende Folgen für die Kooperationsbeziehungen, für das Vertrauen und für die Wahrnehmung der Beratung in der (Schul-) Öffentlichkeit.

      Wenn eine Behörde ein verzweigtes Förder-Optimierungssystem einrichtet, entstehen Abgrenzungs-, Zuweisungs- und Steuerungsnotwendigkeiten. An freier, ergebnisoffener Beratung hat sie weniger Interesse. Einem Verständnis von Beratung als Steuerung stehen Psychologen und weitergebildete Beraterinnen in der Tendenz eher fern, sodass sie leicht als widerständig und subversiv erscheinen mögen. Im ungünstigen Fall könnte ein derartiger Konflikt durch eine Organisationsveränderung „aufgelöst“ werden.

      So, oder so ähnlich könnte es in Hamburg bei der Neuorganisation der Schulberatung im Jahre 2000 – in Verbindung mit anderen schulischen Problemlagen (die Verhaltensgestörtenschulen sollten aufgelöst werden, die Lehrer brauchten zum Teil einen neuen Arbeitsort, Schulpsycholog/inn/en galten als schlecht erreichbar) – gegangen sein. Seinerzeit wurden Lehrer und Sonderpädagogen durch die Neugründung einer Organisation gleichsam zu Beratern. Es blieb nicht aus, dass Berufsgruppen, wie die Schulpsychologen und professionell Beratende, die auf Grundprinzipien der Beratung bestanden, ins Abseits gerieten. Die spätere Praxis hielt mit den guten Vorsätzen und Papieren der Gründungsphase nicht mit. Von einer „(Sonder-) Pädgogisierung“ der Beratung war die Rede. Die administrativen Aufgaben nahmen zu.

      Ein Schub für Deprofessionalisierung der Beratung kann allerdings auch von „klassischen“ Berufsgruppen professioneller Beratung ausgehen. Psychologinnen und Psychologen treten nach dem Studium möglicherweise mit weniger Beratungsknow-how und weniger definiertem Beratungsinteresse ihre Arbeit an. Gemeint ist hier, was schon häufiger an Kritik zu hören ist: Die Ausbildung im Psychologiestudium sei verschult, technokratisch, testlastig, weniger auf Persönlichkeits- und Subjektentwicklung und Kenntnis ihrer Rahmenbedingungen angelegt als das in der Vergangenheit der Fall gewesen sein mag[Fußnote 4].

      Folge solcher Entwicklungen ist, dass ein Reflexionsprozess über Beratung und ihre Rahmenbedingungen in behördennahen Beratungsorganisationen schwerer wird. Die Wirkungen der Institution und der Institutionsdynamiken auf die Beratung treten kaum ins Bewusstsein – eine systematische Unterschätzung der Kontexte beratender Arbeit findet statt. Denkbar, dass das billigend in Kauf genommen wird oder gar gewollt ist. Postdemokratie und Entfesselung der Wirtschaft haben vermutlich viele Gesichter. Wie

      dem auch sei: Eine verantwortliche, reflektierte professionelle Haltung, hätte das Zusammenspiel von Institutionsdynamiken und persönlichen Dynamiken (Schüler, Eltern, Lehrerinnen, Leitungsebenen, Beraterinnen) in den Blick zu nehmen.

      Vor einer weiteren Beschreibung der Gegenwart hilft vielleicht, zurückzuschauen und zu erkennen, um was es geht.

      

      2 Beratung als Ordnungsfunktion – eine historische Skizze

      In den 1920 er Jahren stellten politische Umbrüche, revolutionäre Bewegungen und wirtschaftlich-soziale Spannungen die bürgerlich-konservative Ausrichtung der jungen Republik infrage. In der Frage, wie sie sich organisieren sollte, spielte auch das Schulwesen eine bedeutende Rolle. Es musste auf Öffnungs- und Gerechtigkeitsforderungen reagieren. Es kam in einigen Regionen Deutschlands vereinzelt zu „Bildungsoffensiven”. Die Schulpflicht war gerade eingeführt worden, in Mannheim entstand 1921 ein neues Schulsystem, das auch den ersten Schulpsychologen Deutschlands hervorbrachte. In Hamburg wurde die „Schülerkontrolle“ eingerichtet.

      An dieser Stelle ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die vollständige Schulpflicht im Jahr 1920 mit dem Reichsschulgesetz eingeführt worden war, und zwar in Gestalt des Schulzwangs. (Zuvor hatte es eine mehr oder weniger genau kontrollierte Unterrichtspflicht gegeben, der auf unterschiedlichem Weg nachgekommen werden konnte.) Dem Staat erwuchs daraus die Verpflichtung, ein schulisches Angebot vorzuhalten, in welcher Quantität und Qualität auch immer. Die Schulen und ihr Personal erhielten die Aufgabe der Kontrolle, die Eltern wurden darin eingespannt. Das heißt, sie mussten ein Stück ihrer Freiheit und ihrer Rechte am Kind aufgeben.

      Die im Schulgebäude und unter den Bedingungen des Staates zu erfüllende Schulpflicht, eine gemeinsame Schule für einige Jahrgänge und die Verpflichtung zum Schulbesuch boten sicher Lerngelegenheiten für die minderbemittelten Klassen, wie sie damals genannt wurden. Aber diese Teilhabe war auch eine Teilhabe an den Sozialisations- und Unterwerfungsprozeduren des Staates – zumal die Rechtsgrundlagen des Kaiserreichs zur Verwunderung der SPD und der DDP (Deutsche demokratische Partei) im Schulwesen fortbestanden. In wesentlichen Strukturen und schulischen Selbstverständnissen bis in die Gegenwart hinein. Bemühungen, die Schulpflicht in ein Bildungsrecht umzuwandeln oder in eine Unterrichtspflicht, wie sie in fast allen europäischen Ländern existiert, sind daher nur allzu verständlich. (Mehr dazu in Teil II)

      Hans

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