Zwischen Unabhängigkeit und Ordnungsfunktion. Jürgen Mietz
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Spezielle Lebenslagen, biografische Erfahrungen schienen Hans Lämmermann plausiblerweise als bedeutsam für das Lernverhalten, jedoch bezog er das nicht in seine Untersuchungen ein. Der Mensch war nicht als Autor und Mitgestalter seines Lebens vorgesehen. Von Kontrakten, Arbeitsbündnissen, Ebenbürtigkeit war nicht Rede. Was ebenfalls fehlte, war eine ethisch-normative Grundlage Lämmermanns Psychologie.
Zu einer Psychologie und Beratung vom Subjektstandpunkt des Betroffenen aus (Kind, Eltern, Lehrer) mochte sich niemand entschließen. Tasächlich gab es solche Ansätze, unter anderem bei den Psychologen, die wenige Jahre später die Flucht aus Deutschland ergreifen mussten, um ihr Leben zu retten. Die Folgen der Fixiertheit auf „objektive Daten” zeigten sich in aller Krassheit. Die bittere Pointe war, dass Hans Lämmermann die Nationalsozialisten gut 10 Jahre später nach Beginn seiner Arbeiten drängte, die Ergebnisse seiner perfekten Selektionsmethoden und Forschungen für die Umsetzung der Gesetze zur Erbhygiene zu nutzen (a.a.O.).
Schülerkontrolle und Schülerhilfe in Hamburg
Schul- und schulaufsichtsnah war auch die Keimzelle der Hamburger Schülerhilfe, die später zu Rebus und zu den Beratungsabteilungen im ReBBz[Fußnote 6] weiterentwickelt wurde. Sie trug die Bezeichnung »Dienststelle Schülerkontrolle«, gegründet 1920 und war nach Jahren mit der »Schulfürsorge« vereinigt worden. Sie hatte die Aufgabe, den Schulbesuch der Berufsschüler zu überwachen. Sie war ein erster Ausfluss der Schulpflicht. Sie war weder bei Schülern, Eltern noch Arbeitgebern durchgängig beliebt. Schülern leuchtete häufig nicht ein, weshalb sie ihre Zeit in einer Einrichtung wie Schule verbringen sollten. Ihnen und ihren Familien kostete das in wirtschaftlich schlechten Zeiten bares Geld, Arbeitgeber stellten sie oft gar nicht erst ein, wenn sie eine Berufsschule besuchen wollten. Sie waren an billigen Arbeitskräften interessiert.
Neben der Abteilung der »Dienststelle Schülerkontrolle« gab es noch eine Abteilung »Schulfürsorge«. Sie beruhte schon seit den 1880 er Jahren im Wesentlichen auf freiwilliger Arbeit engagierter Lehrer/innen und auf der Spendenbereitschaft reicher Bürger. Die Behörde stellte einige Lehrerstellen zur Verfügung, um dieses Engagement zu unterstützen und zu koordinieren. Beide Abteilungen hatten Berührungspunkte mit der Jugendhilfe und dem Jugendamt.
In der nationalsozialistischen Zeit hatten Schülerkontrolle und Schulfürsorge eine hohe strategische Bedeutung für die „Volksgesundheit”, für die „Wehrkraft” und für die Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Ordnung. Die Schülerkontrolle war eine wichtige Schnittstelle zwischen Jugendamt, Schulbehörde und der Parteiorganisation der NSV[Fußnote 7]-Jugendhilfe.
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 machten Schülerkontrolle und Schulfürsorge da weiter, wo sie aufgehört hatten: Kontrolle des Schulbesuchs und fürsorgerische Aufgaben waren dringlich. Sie verschoben sich im Laufe der Jahre hin zu pädagogischen Verständnissen[Fußnote 8].
Die Ausrichtung war sozial und pflegerisch, untrennbar damit verbunden war eine ordnungspolitische Funktion: Die Frage der Schulpflicht war immer wichtiger Inhalt der Schülerkontrolle und ihrer Nachfolgeorganisationen. 1948 wurde dann der Bezeichnung »Abteilung Schulpolizei«, die Teil der Schülerkontrolle war, abgeschafft.
Anfang der 1951 er Jahre stand aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung eine Zusammenlegung von Schülerkontrolle und Schulfürsorge an. Sie mündete in eine Organisation, die ab 1953 Schülerhilfe hieß. Die erfassenden, ermittelnden, zuführenden, tw. auch die strafenden Aufgaben blieben ihr erhalten.
Sicherstellung des Schulbesuchs, auch mit sogenannten »schulpflegerischen« Mitteln, war eine der Hauptaufgaben der neuen Organisation. Die allgemein miserable Lage der Nachkriegszeit bestimmte die Tätigkeit der Ermittler (so die gängige Bezeichnung). Die Hauptaufgabe bestand in der Eingliederung der Jugendlichen in ein einigermaßen geordnetes Leben.
Der Leiter der neuen Organisation Dr. Helmut Wiese plädierte für eine Stärkung von Beratung durch Lehrer, eine Ausrichtung, die von der Behörde unterstützt wurde. Jede Schule sollte einen Beratungslehrer haben. Sie wurden von der Schülerhilfe angeleitet und unterstützt; ebenso vom Lehrerfortbildungsinstitut. Das Konzept war, »die Lehrer sozialpädagogisch zu aktivieren« (Dr. Wiese). Man darf sich das vermutlich nicht als einen über einen längeren Zeitraum andauernden Prozess vorstellen, wenn man in Berichten die niedrige Zahl der Beschäftigen und die hohen Zahlen von Begutachtungen sieht.
So sehr Helmut Wiese auch für Beratung plädierte, so offen muss doch bleiben, welchen Charakter sie haben mochte. Das mögen einige Zahlen veranschaulichen. 1953 zählte er 543 schulpsychologische Untersuchungen, 1958 1171. 1958 befasste sich die Schülerhilfe mit 1255 straffällig gewordenen Schülern[Fußnote 9]. Zuständig waren zwei Psychologen (Lehrer).
Die Aufgaben der Schülerhilfe waren stark auf die Bedürfnisse der Schulaufsicht ausgerichtet, unter anderem in gutachtlicher Hinsicht. Zudem hatte sie beratende Aufgaben für Schüler und Lehrer. In den Vorschlägen zur Neuorganisation hatte Wiese selbst in Aussicht gestellt
»Die Schulfürsorge kann auch den Schulräten zeitraubende Untersuchungen abnehmen und durch gutachtliche Äußerung ihre Entscheidung vereinfachen.« (StA HH 361-2 VI 430-60)
Die Beratung war im Wesentlichen behördennah und erfolgt(e) aus schulinstitutionell-funktionaler Sicht; sie war eine Dienstleisterin. Der Vorschlag der Schulbehörde für die neue Organisation beinhaltete für Abteilung 1 (Schulpsychologische Beratungs- und Betreuungsstelle folgende Aufgaben:
• Klärung von Schulversagen
• Gutachten für die Schulbehörde
• vorübergehend Einzelunterricht Ausgeschulter
• Beratung unter Hinzuziehung der Schulärzte und Psychiatrischen Dienste
• Beratung der Lehrer in besonders schwierigen Fällen
Zur Abteilung 1 gehörten weiter die Schülerkontrolle und die berufspädagogische Dienststelle.
Die Schülerhilfe beteiligte sich ebenfalls bei schwierigen Fällen mit testpsychologischen Untersuchungen an der Schülerauswahl. In einer Konferenz wurden dem Oberschulrat ... die »Prüfungsunterlagen vorgelegt, und es wurden einzelne Fälle nochmals durchgesprochen«[Fußnote 10].
Dieses Beratungskonzept steht in der Tradition, dass »gestandene Schulleute« auf dem Terrain der Schule, in Einklang mit den behördlichen Selbstverständnissen, agieren sollten. Man wollte »unnötigen Bürokratismus« vermeiden. Das war verbunden mit der Überzeugung, dass gestandene Schulleute einer Jugend in Not, in der Gefahr des »Absinkens«, mit einer Mischung aus Strenge und Milde den Weg weisen könnten[Fußnote 11]. Die Jahrzehnte praktizierte Aufgabe der Verfolgung von Schulversäumnissen, die »Ermittlungen«