Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Kalter Krieg im Spiegel - Peter Schmidt страница 29
Kruschinsky kam aus dem Nebenzimmer und reichte mir einen Textstreifen aus dem L.D.A. Ich las ihn und steckte ihn in die Jackentasche.
»Für einen Mann Ihres Alters kein schlechtes Gebiss«, stellte der Doktor fest, als er den Abdruck herausgenommen hatte. Er verglich ihn mit einem Wachsabdruck, der eingewickelt vor ihm lag. »Gut, das wär‘s. Wünsche einen angenehmen Abend.« Dann packte er alles in sein Köfferchen und ging zur Fahrstuhltür. »Eindeutig Kofler«, nickte er mir zu. »Ein gesunder, starker Mann. Könnte hundert Jahre alt bei uns werden.«
Nicht mal der Ansatz eines ironischen Lächelns war in seinem Gesicht, als er mit Kruschinsky den Fahrstuhl betrat.
»Und …?«, erkundigte sich Kofler – wir hatten uns an den Tisch gesetzt –, »kein Agent der Warschauer-Pakt-Staaten?« Seine Augen funkelten, und sein Kopftick beschrieb eine vergnügte Aufwärtsbewegung.
»Nehmen Sie ernsthaft an, jemand habe Sie dafür gehalten?«
»Ehrlich gesagt, ja.«
»Dann war Ihr Ausflug so etwas wie der Versuch, uns Ihre Harmlosigkeit zu demonstrieren?«
»Nein, zu dem Zeitpunkt war ich noch ganz arglos.«
Ich zuckte die Achseln und schlug meine Mappe auf.
»Eines ist mir noch unklar. Nämlich Ihr Verhältnis zur Mehrheitsdemokratie. Es scheint, dass Sie das Verfahren ablehnen? Dabei handelt es sich um eine Äußerung, die Ihnen im Westen viel Zulauf eingebracht hat – Zulauf aus radikalen Kreisen. Man wertet das nicht gerade als Plädoyer für unsere freiheitliche Verfassung. Allerdings ist manch einer bei uns, der zu den dreißig, vierzig oder gar neunundvierzig Prozent einer Minderheit gehört, der Abstimmungsverfahren überdrüssig und bezeichnet sie als ‚Diktatur des einundfünfzigsten Prozents’. Offenbar vertreten auch Sie die Meinung, an die Stelle des Mehrheitsprinzips müsse das Kompetenzprinzip treten?«
»Keine Bindung an Besitz, Rang, Namen oder Funktionen«, nickte Kofler. »Selbst wenn man das gegen mich auslegt. Ich berufe mich da auf den finnischen Staatspräsidenten Kekonen, eine falsche Politik werde auch dann nicht richtig, wenn das Volk sie wolle.«
»Man wird Ihnen das als undemokratische Beliebigkeitshaltung auslegen. Wer entscheidet über Kompetenz?«
»Es kommt darauf an, wie man einen solchen Grundsatz handhabt. Auch der Westen praktiziert keine echte Mehrheitsdemokratie. Es entscheiden die Experten.
Sie sehen das an der relativen Wirkungslosigkeit von Demonstrationen. Niemand veranstaltet deshalb eine Volksabstimmung – auch nicht, wenn sich einige tausend Menschen in der Bonner Innenstadt versammeln. Aber die Experten müssen guten Willens sein. Sie dürfen nicht an ihren Ministersesseln kleben, sie dürfen nicht dem Großkapital zuarbeiten. Wir überleben nur, wenn wir den kategorischen Imperativ jeden Augenblick aufs neue zur echten Maxime machen.«
»Ihr Wort in Teufels Ohr«, sagte ich. »Gut – vertagen wir die offizielle Vernehmung. Ich habe noch eine Flasche Rotwein im Schrank … wenn Sie Lust auf ein Gläschen haben?«
»Gern«, nickte er.
Ich ging hinaus, um die Flasche zu holen, Kruschinsky plagte sich im Nebenraum mit dem Notizbuch. Einige Blätter, auf denen er verschiedene Entschlüsselungsmethoden durchprobiert hatte, lagen verstreut auf dem Tisch.
»Aus Ihrer ‚halben Stunde’ wird nach und nach eine halbe Woche?«, sagte ich.
»Es ist ein ungewöhnlich kniffliger Kode«, erklärte er kopfschüttelnd. »Aber ich hab‘s noch nicht aufgegeben. Wenn ich wüsste, was das durchgestrichene Wort oben bedeutet, hätte ich einen Ansatzpunkt, weil es möglicherweise auch im Text auftritt.«
»Cordes …«‚ sagte ich und ging in mein Zimmer hinüber. Ich spürte förmlich, dass Kruschinskys Blick dabei an meinem Rücken hing. Kofler hatte seine Jacke ausgezogen. Darunter trug er einen verwaschenen blauen Pullover, der etwas zu lang war.
»Die Morgenzeitung schreibt, ich würde über Ungarn oder Rumänien einreisen«, erklärte er, als ich hereinkam.
»Vielleicht nur ein Täuschungsmanöver, um die Kollegen von den anderen Blättern abzulenken.«
»Halten Sie das für möglich?«
»Journalisten sind keinen Deut besser als Geheimdienste.«
Ich entkorkte die Flasche und goss ihm und mir ein randvolles Glas ein. Er roch daran, spülte fachkundig einen kleinen Schluck im Mund und nickte anerkennend.
»Guter Tropfen. In Polen muss man lange anstehen dafür. Falls er überhaupt aufzutreiben ist. – Wie sind Sie an den Job gekommen?«, fragte er nach einer Weile.
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Würde mich interessieren …«
Ich goss mein Glas nach und musterte ihn, seine strahlend blauen Augen sahen mich vertrauensselig an.
Es war die sympathische Offenheit darin, die mich wie von selbst in sein Lager überwechseln ließ. Nicht viel mehr als ein wenig offene Bläue …
»Bevor ich diesen Job übernahm, war ich Staatsanwalt. Wegen eines groben Fehlers – Voreingenommenheit aus Eifersucht, durch die jemand Selbstmord beging – wurde ich vom Dienst suspendiert. Ich geriet sogar in den Verdacht, Beweismaterial manipuliert zu haben. Es ging mir ziemlich erbärmlich danach – bis man mir diese Arbeit anbot.«
Kofler ließ sich Einzelheiten über Pysiks Selbstmord, die Hintergründe der Ermittlungen und seinen Prozess erzählen. Er stellte Fragen, die verrieten, dass er sein Handwerk als Kriminologe noch nicht verlernt hatte. Ich dachte, es sei nützlich, ein persönlicheres Verhältnis zu ihm zu gewinnen. Der Eindruck, den er auf mich machte, war noch zu unbestimmt. Meine Geschichte war ohnehin bekannt. Sie hatte damals in allen Zeitungen gestanden.
»Und der wirkliche Täter ist nie gefasst worden?«, fragte er nachdenklich. »Jemand muss Pysik belastet haben.«
»Es wurde eine Nummern-Druckmaschine für Schecks bei ihm gefunden. Aber die gefälschten Schecks waren auf einer anderen Maschine gedruckt worden.«
»Sie haben sehr leichtfertig gehandelt.«
»Ich war von Pysiks Schuld überzeugt.«
»Ihre Überzeugung hat ein Menschenleben gekostet.«
»Ja, und ich bin noch nicht darüber hinweg.«
»Es ist immer das Gleiche«, meinte er grüblerisch. »Mit ein wenig gutem Willen, an seine Unschuld zu glauben, wäre das alles nicht passiert.«
»Eigentlich verfolgen mich solche Irrtümer, solange ich zurückdenken kann – es scheint so, als wenn ich eine Art Option darauf hätte.«
Ich berichtete ihm von dem Bilderdiebstahl und einer anderen – ähnlichen – Geschichte aus meiner Schulzeit. Damals hatte ich überein Jahr lang einen Schüler gemieden, der mein Freund gewesen war. Ich wusste, dass er darunter litt und mich nicht verstand, aber ich glaubte, er habe mich beim Lehrer wegen eines geschwänzten Vormittags verpetzt