Wege aus der Angst. Psychologische Ursachen und praktische Lösungen. Dr. Rainer Schneider
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Die persönliche Begegnung zwischen Psychologe und Ratsuchendem ist zwar ein wichtiges Bestimmungsstück einer professionellen Beratung. Trotzdem kann auch ein „unpersönlicher“ Ratgeber wertvolle Dienste leisten, die bei vielen Angstformen zu helfen vermag. Das ist kein Widerspruch. Denn gerade Ängste lassen sich nur bedingt durch therapeutische Gespräche „weg reden“. Im Gegenteil: Die Krux ist ja, dass den Betroffenen bewusst ist, wie irrational oder unangemessen das eigene Verhalten ist. Es fehlt selten an Einsicht! Die Angst hat sich aber verselbständigt, so dass sie sich der vernunftmäßigen Kontrolle entzieht. Dessen ungeachtet ist die persönliche Begegnung sowie der empathische Austausch zwischen Ratsuchendem und Experten natürlich nur bedingt zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund glaube ich aber, dass dieses Buch Ihnen helfen kann zu entscheiden, worauf es in Ihrem speziellen Fall bei der persönlichen Begegnung besonders ankommt.
Eines zieht sich in diesem Buch durch wie ein roter Faden: Ich gehe bei der Suche nach den verschiedenen Angstquellen mehr auf psychische Funktionen ein als auf kognitive Inhalte. Dabei folge ich einem Ansatz, der in der akademischen Psychologie noch relativ neu ist, aber mehr und mehr Beachtung findet. Falls Ihnen jetzt noch nicht klar sein sollte, was der Unterschied zwischen Funktionen und Kognitionen ist, so spanne ich Sie noch ein wenig auf die Folter.
Doch so viel schon einmal vorab: Etwas verkürzt könnte man sagen, dass ich weniger beschreibe, welche Denkstrategien helfen oder wie Sie die jeweilige angstbesetzte Situation rational (er)klären sollen (auch wenn ich an der einen oder anderen Stelle dazu Anregungen gebe). Vielmehr gebe ich Ihnen Techniken an die Hand, mit denen Sie selbstregulative Funktionen trainieren, die Angstprozesse abschwächen oder – das wäre der Idealfall – ganz zum Verschwinden bringen.
Gerade bei Angststörungen geht es in besonderem Maße darum, Kontrolle über die eigenen Emotionen, körperliche Abläufe und das psychische Wohlbefinden zu bekommen. Wer schon einmal eine Panikattacke hatte, weiß, wovon ich spreche – die damit verbundenen Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit sind äußerst beklemmend und an sich wieder angstauslösend (Angst vor der Angst). Meine praktische Erfahrung zeigt, dass man diese Automatismen durchbrechen kann, vorausgesetzt, man trainiert die Techniken regelmäßig.
Dieses Buch ist in mehrere Teile aufgebaut. Kapitel 2 behandelt Angst aus einer grundsätzlichen Perspektive und erklärt, warum Sie manche Angstformen getrost nicht so ernst nehmen sollten. Kapitel 3 beschreibt, wann Sie Angst ernst nehmen sollten und gibt Hinweise, wann sie zu einer Störung werden kann. In Kapitel 4 bis 6 gebe ich eine Einführung in eine spezielle Theorie der Psyche, die ich diesem Buch zugrunde lege. Der geneigte Leser kann diese Kapitel nutzen, die psychologische Dynamik hinter Angstphänomenen besser zu verstehen. Kapitel 7 umfasst den eigentlichen Kern des Buches und gibt praktische Anleitungen, wie Sie mit verschiedenen Angstformen umgehen. Im letzten Kapitel gebe ich eine Schlussbetrachtung auf das Thema und stelle es noch einmal in einen größeren Zusammenhang.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Erfolg mit diesem „Angst-Buch“.
2. Messer, Gabel, Scher‘ und Licht…
Lassen Sie uns damit anfangen, in welcher Hinsicht Angst mindestens genauso wichtig ist wie z.B. Freude. Viele Psychologen sind der Meinung, dass negative Affekte, und damit auch Angst, größeren Informationswert haben als positive. Wohlgemerkt: Es geht hierbei nicht um die Quantität der Emotionen an sich und auch nicht darum, welche Emotionen im Sinne einer Gesamtbilanz in eines Menschen Leben überwiegen sollten, damit dieser erfüllt, glücklich und zufrieden ist.
Es geht um das Potenzial dessen, was Emotionen uns über unsere Umwelt lehren. Also: Warum sollen negative Affekte größeren Informationswert haben? Die Antwort ist im einleitenden Kapitel bereits angeklungen. Die durch den negativen Affekt angezeigte Gefahr lehrt uns, einer bestimmten, möglicherweise schädlichen Situation aus dem Weg zu gehen. Angst kann somit Überlebenswert haben. Belohnungen hingegen haben selten Überlebenswert. Sie zeigen höchstens an, dass man sich einem Reiz vertrauensvoll nähern kann, weil er Lust spendet. Etwas überspitzt formuliert könnte man sagen, die Angst vor der Peitsche ist lehrreicher als die Lust auf das Zuckerbrot.
In der Fachsprache drückt man das so aus: Negativer Affekt hat eine höhere Anregungsschwelle als positiver (1). Damit ist gemeint, dass man zwar schneller auf Belohnung anspricht als auf Bestrafung. Aber man ist länger und nachhaltiger motiviert, einer Bestrafung zu entgehen. Das schlägt sich auch in unseren Alltagserfahrungen nieder. Ein Ereignis oder ein Reiz, der ängstigt, bleibt länger in Erinnerung. In der Regel kann man sich deshalb lebhafter an ganz bestimmte negative Ereignisse erinnern als an positive. Probieren Sie es mal bei sich selbst aus. Nennen Sie so schnell wie möglich drei äußerst negative, angstbesetze Ereignisse aus Ihrem Leben und dann drei positive, belohnende. Welche fallen ihnen schneller ein? Oder noch besser: Welche haben sie klarer vor Ihrem geistigen Auge?
Die Vehemenz angstbezogener Ereignisse deutet der Titel dieses Kapitels: Viele Ängste werden erlernt, so z.B. die Angst vor den Grundelementen oder vor bestimmten Gegenständen. Sobald man sich einmal die Finger verbrannt oder in dieselben geschnitten hat, wird einen die Angst vor Versehrtheit schützen, sich noch einmal in eine ähnliche Gefahr zu begeben. Man wird vorsichtiger. Solche Ängste übertragen sich auf verschiedene Situationen. Wir generalisieren Angst und lernen dabei gleichzeitig, ihr auszuweichen, zumindest wenn wir das können. Die Generalisierung kann Fluch oder Segen sein, wie wir später noch sehen werden. Zunächst einmal kann man aber feststellen, dass Ängste an sich Gefahr oder Verlust signalisieren, psychisch wie physisch.
Nun gibt es elementare bzw. rudimentäre Ängste, z.B. vor Feuer und sozial erlernte. Die erlernten sind jedoch keineswegs immer logisch oder rational. Manche sind sogar ausgesprochen irrational. Nehmen Sie z.B. das Autofahren. Kennen Sie jemanden, der Angst vor dem Autofahren hat? Ich persönlich habe erst einen Menschen kennengelernt, der sich kaum in ein Auto traute. Dabei wäre diese Angst durchaus rational. Wir haben erstaunlich viel Vertrauen in eine vermeintliche Sicherheit, die sich nur allzu oft als Scheinsicherheit herausstellt. Mit 180 Sachen über dicht befahrene Straßen zu rasen, ist eigentlich gruselig.
Wie gefährlich Autofahren bzw. der Straßenverkehr ist, zeigen Statistiken (15). Im Jahr 2011 starben z.B. alleine im deutschen Straßenverkehr durchschnittlich 11 Menschen pro Tag (darin eingeschlossen sind allerdings auch Rad- und Kraftradfahrer). Gemessen an der Zahl der Verkehrsteilnehmer insgesamt klingt das nicht nach so viel. Aber leichte und schwere Verkehrsunfälle sind ja um ein Vielfaches höher, was nur zeigt, wie unsicher das Autofahren eigentlich ist. Nun ist die Wahrscheinlichkeit, im Straßenverkehr zu Tode zu kommen, um ein Vielfaches höher als im Flugzeug zu reisen. Flugangst ist aber wiederum ein ziemlich verbreitetes Phänomen. Hier wieder ein Zahlenbeispiel: Weltweit (!) ließen im gleichen Jahr pro Tag etwa zehn Mal weniger Menschen ihr Leben als beim Autofahren.
Laut Schätzungen leiden etwa zehn Prozent der Flugängste unter Flugangst (Aviophobie). Die tatsächliche Rate ist wohl höher, denn viele Menschen meiden das Flugzeug ganz und steigen wenn möglich auf ein anderes Verkehrsmittel um. Man könnte argumentieren, dass fliegen den Menschen wesentlich unnatürlicher ist als fahren. Das mag so sein und es gäbe sicherlich noch weitere Gründe, warum sich diese beiden Ängste so unterschiedlich ausbilden; wir brauchen das an dieser Stelle nicht zu vertiefen. Worauf ich hinaus will, ist folgendes: Gemessen an der Wahrscheinlichkeit einer Gefahr, bewegen wir uns relativ angstfrei auf deutschen Straßen; eine Autophobie entwickeln wir nicht.