Weihnacht!. Karl May
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Welch eine Freude gab es jetzt! Die Augen des Greises öffneten sich weit, um das Licht der Weihnachtskerzen in sich aufzunehmen; die Frau weinte jetzt nicht mehr Schmerzens-, sondern Freudenthränen, und der Knabe schlang seine Arme um ihren Hals, um das Schluchzen, welches ihn jetzt von neuem übermannen wollte, an ihrer Brust zu verbergen. Ich konnte nicht anders, ich mußte in die Tasche greifen und einen Gulden herausnehmen, den ich zu den fünf des Wirtes legte. Als Carpio dies sah, sagte er leise zu mir:
»Ja, ihr könnt geben, ihr! Der Franzl hat reich geheiratet, und du hattest fünf Thaler, ich aber nur drei; ich bin der Ärmste und kann nichts – – und doch, doch, ich kann auch etwas geben, wenn auch kein Geld wie du; paß nur auf!«
Er bat um Schweigen, stellte sich neben den Baum und begann zu deklamieren:
»Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ – –«
Wie kam es nur, daß mein eigenes Gedicht mir so fremd vorkam, so, als ob es nicht von mir, sondern von einer ganz andern Person, einem ganz andern Wesen stamme? Je weiter er sprach, desto fremder kam es mir vor und desto tiefer griff es mir in die Seele hinein. Auch die andern hörten voller Andacht zu. Der Greis verwendete keinen Blick von dem Redner; seine Augen bekamen Glanz; es tauchte ein seltsames Licht in ihnen auf. War das der Reflex des brennenden Weihnachtsbaumes? Oder war es der Schein einer höhern Klarheit, welche jetzt sein Herz erleuchtete? Er breitete die auf dem Tische liegenden Hände auseinander und öffnete sie, als ob er, sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung aufrichtend und den vorher so müden Kopf hoch hebend, eine unsichtbare, von oben kommende Gabe ergreifen und festhalten wolle. Er hörte fast ohne Atem zu, richtete sich, als Carpio geendet hatte, langsam auf, so daß er kräftig und kerzengerade am Tische stand, und bat:
»Noch einmal das letzte, noch einmal! Oh bitte, wiederholen Sie es von da an, wo der Priester spricht!«
Carpio kam diesem Wunsche nach, und es war mir auch jetzt wieder, als ob es nicht meine, sondern die Worte eines andern seien:
»Und der Priester legt die Hände
Segnend auf des Toten Haupt:
›Selig, wer bis an das Ende
An die ewge Liebe glaubt!
Selig, wer aus Herzensgrunde
Nach der Lebensquelle strebt
Und noch in der letzten Stunde
Seinen Blick zum Himmel hebt!
Suchtest du noch im Verscheiden
Droben den Erlösungsstern,
Wird er dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn.
Darum gilt auch dir die Freude,
Die uns widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Auch dein Heiland Jesus Christ!‹« – –
Da legte der Alte die ausgebreiteten Hände wieder ineinander, sank auf den Stuhl zurück, schloß, indem ein seliges Lächeln über sein Gesicht ging, die Augen und wiederholte leise, doch so, daß wir sie hörten, die Worte:
»Darum gilt auch dir die Freude, – – die uns widerfahren ist, – – denn geboren wurde heute – – auch dein Heiland Jesus Christ! Das gilt auch mir – – mir – – – mir! Ich habe ihn gesucht – gesucht – gesucht – – und heut ist er gekommen! Ich sehe ihn; ich sehe seinen Stern; ich sehe das Licht, welches da leuchtet auf den Feldern von Bethlehem! Und wie war das, wie? Ich meine das, was Simeon sagte, als er im Tempel den Heiland sah.«
Ich nickte Carpio zu, und dieser antwortete:
»Herr, nun lässest du in Frieden
Deinen Diener zu dir sehn,
Denn sein Auge hat hienieden
Deinen Heiland noch gesehn!«
»Ja, ja, so ist es; ich sehe ihn!« fuhr der Alte fort, noch immer geschlossenen Auges. Er bewegte die Lippen wieder wie früher, jetzt aber nicht betend; das sah man deutlich; er schien nach Worten zu suchen, nach Worten, welche er gehört hatte und in ihrem Zusammenhange nicht wiederfinden konnte. Dann fragte er: »Und wie, wie heißt es in dem Gedichte von dem Sünder? Wie sagte er, als er um Erbarmen flehte?«
Diesesmal antwortete Carpio, ohne meinen Wink erst abzuwarten:
»Betend faltet er die Hände,
Hebt das Auge Himmel an:
›Vater, gieb ein selig Ende,
Daß ich ruhig sterben kann!
Blicke auf dein Kind hernieder,
Das sich sehnt nach deinem Licht;
Der Verlorne naht sich wieder;
Geh mit ihm nicht ins Gericht!‹« – –
»Blicke auf dein Kind hernieder,« wiederholte der Greis,- – »das sich sehnt nach deinem Licht; – – der Verlorne naht sich wieder; – – geh mit ihm nicht ins Gericht! – – – Nicht, nein, nein! – – nicht ins Gericht!« rief er laut aus, indem er die Augen weit aufriß und mit einem angstvollen Blicke rund um sich starrte. Dann schloß er sie wieder; der Ausdruck der Angst verschwand; ein leises, uns zu Herzen gehendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht, und dann kam es flüsternd und immer leiser und langsamer werdend über seine Lippen: »Suchtest du noch im Verscheiden – – droben den Erlösungsstern – – wird er dich zur Wahrheit leiten – – und zur Herrlichkeit des Herrn – –! Wahrheit – – Herrlichkeit, oh Herrlichkeit – –! Ich bin müde; ich will schlafen, schlafen gehen – – schlafen gehen – – schlafen!«
Er legte den Kopf hintenüber und ließ ihn dann zur Seite nach der Schulter fallen.
»Mein Gott, er stirbt – er stirbt!« sagte der Wirt besorgt.
»Nein, er stirbt nicht,« beruhigte ihn die Frau. »Er ist nur müde von dem weiten, schweren Wege und von der innern Erregung jetzt. Er hat oft solche doppelte Müdigkeit. Aber schlafen muß er jetzt. Bitte, sagen Sie mir, wohin ich ihn bringen soll!«
»Bringen? Sie werden ihn tragen müssen?«
»Halb geht er, und halb halte ich ihn.«
»Ich werde Ihnen helfen. Wir haben oben eine Stube mit drei Betten. Ihr Sohn mag dort das Licht nehmen!«
Sie griffen dem Alten unter die Arme und zogen ihn empor; er kam wieder zu sich und schritt, von ihnen unterstützt, doch ohne die Augen zu öffnen, zur Thür hinaus. Als ich nun mit Carpio allein war, sagte dieser:
»Das war eine unerwartete Weihnachtsfeier, unerwartet und ergreifend, wie ich noch keine erlebt habe! Aber, Sappho, was sagst du dazu? Diese Leute sind keine gewöhnlichen Leute; ich glaube nicht, daß sie dem gewöhnlichen, dem Arbeiterstande