Kairos. Christian Friedrich Schultze
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Wenn sie während ihrer Odyssee durch die Staaten hin und wieder mit Ordnungshütern in Kontakt geriet, erzählte sie ihnen die Geschichte von der arbeitslosen Chinesin Du Chong aus Wuhan, die ihre verheiratete Schwester in den USA besuchen wollte. Die Städte, in denen diese Schwester wohnen sollte, wechselten, je nachdem an welchem Stadtort sich Li Hui gerade befand. Die zumeist farbigen Polizistinnen und Polizisten waren überwiegend freundlich zu ihr. Unterbezahlt und ohne höhere Motivation gingen sie höchst selten an ihre veralteten Computer, um verdächtige Daten miteinander abzugleichen.
Im Gegensatz dazu waren die zahlreichen Geheimdienste des Landes technisch und elektronisch hoch gerüstet, verlangten nach immer neuer und sündhaft teurer Elektronik, konkurrierten untereinander aber höchst kontraproduktiv. Die Möglichkeiten der Pegasus-Leute gingen jedoch über die des offiziellen Apparates weit hinaus. Das wusste Li Hui aus der Zeit ihres Aufenthaltes in der so genannten Ranch in Area 51.
Sie überlegte, ob sie es wagen konnte, von Flagstaff aus einen Flug nach Miami zu buchen. Schließlich wollte sie so schnell wie möglich heraus aus den Staaten und hinüber auf die Zuckerinsel. Sie hatte den Kubanern Informationen anzubieten, die diese umwerfen würden. Und sie hoffte, dass ihr der legendäre Geheimdienst des schwerkranken früheren Führers Fidel Castro und seines Bruders Raúl im Gegenzug behilflich sein würde, zu ihrem Sohn zu gelangen. Das war das maßgebliche Ziel ihres Lebens und der zentrale Gedanke geworden, der sie nach all den Schicksalsschlägen und all dem Verrat, den sie erdulden musste, noch aufrecht hielt!
Ihr geschulter Instinkt riet ihr zu größter Vorsicht und hinderte sie daran, zum Clark Memorial Flugfeld hinaus zu fahren und sich einen Flug nach Orlando zu nehmen. Es lag nicht nur an der nächtlichen Katastrophe mit Redcliff, dessen Maschine sie ohne jegliche Rücksicht auf die übrigen Passagiere, die zufällig ebenfalls in diesem Unglücksflugzeug nach Washington saßen, in die Luft gesprengt hatten. Bei den gnadenlosen Körperkontrollen, wie sie seit den WTC-Anschlägen im September 2011 auch bei allen Inlandflügen an jedem Passagier, besonders aber an Ausländern, durchgeführt wurden, wäre sie mit der Menge an Bargeld, das sie mit sich führte, unbedingt in Verdacht geraten. Sie wusste, wenn sie sie in ihre Hände bekamen, würden sie den Minichip finden, so vermeintlich gut verborgen er auch unter der Hornhaut ihres rechten Fußes einoperiert war. Sie würden sie Zentimeter für Zentimeter auseinander nehmen. Sie hatte einst sorgfältig und mit quälendem Entsetzen gelesen, was die Folterärzte der amerikanischen Geheimdienste alles drauf hatten und was das CIA-Verhörhandbuch, das so genannte KUBARK, für exorbitante Befragungsmethoden empfahl.
Auf dem Truckerhof von Flagstaff hatte Li Hui einen gemütlichen Schwarzen kennengelernt, der mit gebrauchten Autos handelte. Ziemlich spontan kaufte sie ihm für vierhundert Dollar einen geräumigen, neun Jahre alten, Ford ab und besorgte sich in der Stadt ein kleines Zelt, einen Schlafsack und einige Campingutensilien. Und dann fuhr sie los, zunächst immer die Interstate 40 entlang, die zuweilen auf der legendären Route 66 verlief, immer in Richtung Florida.
Auf diesem Teilstück war der Highway recht komfortabel ausgebaut und Li Hui kam zügig voran. Memphis am Mississippi war ihr nächstes Ziel. Bei herrlichstem, klaren Herbstwetter durchquerte sie mit dem alten Kasten auf der unendlich scheinenden, große Strecken schnurgerade verlaufenden, Straße die südlichen Staaten Arizona, New Mexico, Texas, Oklahoma und Arkansas, bis sie am östlichen Ufer der zentralen Wasserstraße des Imperiums, des Vaters aller nordamerikanischen Ströme, angelangt war. Wäre sie nicht auf der Flucht und voller Trauer um ihren getöteten Freund gewesen, hätte diese Fahrt eine der schönsten Reisen ihres Lebens werden können.
Aber ihr Kummer wegen des Verlustes ihres Liebsten und verlässlichen Freundes verstärkten nur noch das Gefühl ihrer Einsamkeit, während sie die Schönheit des Herbstes und der Herrlichkeiten der Natur dieses Landes, dem sie einst dienen wollte und aus dem sie jetzt verstoßen wurde wie eine leprainfizierte Kranke, begierig in sich aufnahm. Die Widersprüchlichkeit zwischen ihrer Traurigkeit und den Schönheiten des nordamerikanischen Kontinents hätte für sie nicht schmerzhafter sein können. Und irgendwie war dann dieses denkwürdige abendliche Erlebnis auf einem Parkplatz unweit des berühmten Fort Smith eine seltsame Art von innerer Befreiung gewesen, wenn sie auch die Tage danach ständig Befürchtungen hegte, dass ihr Pegasus deswegen erneut auf die Spur kommen könnte.
Die Dämmerung war bereits eingetreten, als Li Hui endlich den Zeltplatz ausgangs des Kerr Lakes, unweit des Arkansas River, gefunden hatte. Sie war gerade damit beschäftigt, ihr winziges Zelt aufzustellen. Der kleine Campingtisch und zwei einfache Klappstühle aus Segeltuch standen bereits neben dem Heck des alten Ford. Nur die sich selbstaufblasende Isomatte machte momentan alles andere, als sich vorschriftsmäßig zu öffnen.
Langsam und fast geräuschlos kam ein offener Buick, ein schönes altes, cremefarbenes, wenn auch sehr rostiges Modell, mit vier unternehmungslustig darin lümmelnden farbigen Jungens die schmale Straße herauf, welche von der Interstate zum Campingplatz führte. Dicht am wackeligen Holzzaun, der den Parkplatz vom Campingareal trennte, hielten sie an. Es sah aus, als ob die Jungs hier öfter vorbeikommen würden. Vielleicht auch nur, um im kleinen Drugstore des Campingplatzes am diesem Freitagabend ein paar Bier zu trinken, weil anderswo in der Umgebung noch weniger los war.
Die Halbstarken hatten, während sie einer nach dem anderen den Buick verließen, das mit vereinzelten Weymutskiefern bestandene Gelände kurz inspiziert und die einsame Li Hui neben ihrem Ford schnell ausgemacht. Sie beobachteten die Chinesin zunächst ein paar Minuten bei ihrer Arbeit, bevor sie sich entschlossen, lässig mit den Hüften wippend, zu ihr hinüber zu schlendern.
Der Dialog verlief wie immer, wenn sich so etwas anbahnte, aufreizend eindeutig und primitiv. Li Hui wirkte schmal, jung und hilflos in ihren hellen Trainingshosen und dem locker übergestreiften, ockerfarbenen Baumwoll-T-Shirt. Ihr volles, schwarzes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihr vom Nacken vorn über die Brust herabhing, während sie sich noch immer mit der Luftmatratze plagte. Die widerspenstige Matte in den Händen drehend, forderte sie die aufdringlichen Jungens betont freundlich auf, dass sie verschwinden und sie in Ruhe lassen sollten. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie den richtigen Ton getroffen hatte. Kichernd und fröhlich herumtänzelnd gaben die vier Rabauken vor, ihr doch nur helfen zu wollen. Schließlich sei es für ein Mädchen wie sie viel zu kompliziert, solch eine Campingbehausung aufzubauen. Man hätte ja gesehen, wie sie sich mit der Isomatte abquäle. Und sie sei ja auch so alleine.
Li Hui erwiderte, dass ihr Freund nur zur Toilette gegangen sei und jeden Augenblick zurückkehren werde. Die Jungs glaubten ihr natürlich nicht und lachten. Sie hatten die Lage längst überblickt. Das unscheinbare Go-In und die Sanitärbaracke waren von hier etwa dreihundert Meter entfernt. Die kleine Holzhüttensiedlung, die ebenfalls zum Campingplatz gehörte, befand sich auf der anderen Seite der Einfahrtstraße und der sozialen Einrichtungen. Die beiden einzigen Zelte, die noch zwischen den Bäumen standen, waren momentan leer.
Ob sie schon länger hier sei, war die nächste Frage. Sie waren um ihren Ford gekreist und hatten das Kennzeichen gemustert. Sie wussten somit, dass die Chinesin nicht aus Oklahoma kam. Ob sie denn keine Lust auf Sex hätte? Freitag Abend hätten doch alle Lust auf auf einen schönen Fick. Sie wären gut darin und sogar zu viert. Da wäre für sie doch ´ne Menge drin!
Li Hui sah sich suchend um. Am nächsten Zelt, dass vielleicht dreißig Meter entfernt stand, kam gerade ein junger Mann an, der wohl Duschen gewesen war. Er schaute einen Augenblick lang interessiert herüber, verschwand dann aber im Innern seiner Behausung. Er wollte damit nichts zu tun haben! Vier gegen eineinhalb, unmöglich!